Magazin Beitrag

Plädoyer für die Rückkehr des Staates

Ein Gastbeitrag von Sebastian Müller

Der Staat scheint ein Auslaufmodell zu sein. Seine Kompetenzen werden geschmälert, öffentliche Leistungen reduziert, seine Schulden steigen. Die Geldaristokratie wird aus ihrer Verantwortung für das Gemeinwohl entlassen. Die internationalen Konzerne haben sich aus seinem regulativen und interventionistischen Klammergriff befreit. Ausgerechnet die Geburtsländer des modernen Nationalstaates befinden sich in einer tiefen Krise – von den failed states der Dritten Welt ganz zu schweigen.

Diese Einschätzung wird auch bisweilen in der Wissenschaft geteilt. Der israelische Historiker Martin Van Creveld spricht in seinem gleichnamigen Buch vom Aufstieg und Untergang des Staates. Creveld postuliert, dass die Kräfte der Globalisierung im allgemeinen, und speziell die europäische Einigung viele Staaten noch zu unseren Lebzeiten in den Zusammenbruch oder zur Aufgabe weiter Teile ihrer Souveränität führen werden.

Doch was soll nach dem Staat kommen? Ist sein Rückzug ein unabwendbares historisches Schicksal, oder eben doch die Folge eines politischen Willens? Wenn zweiteres der Fall sein sollte, wird dabei vergessen, dass bisher keine Ordnung existiert, die den Staat und seine Institutionen ähnlich erfolgreich ersetzen könnte. Eine historische Erfolgsgeschichte wird fahrlässig der Erosion preisgegeben.

Für einen kurzen Augenblick ließ die Weltfinanzkrise den Ruf nach dem Staat wieder laut werden. Nun ist er zugunsten einer beispiellosen Austeritätspolitik verschollen – zu unrecht! Denn das jetzige Desaster der Schuldenkrisen in Europa und den USA wurde durch seine weitgehende Entmachtung gefördert. Doch was uns der Staat gegeben hat und nun wieder geben muss, ist keine nostalgische Erinnerung, sondern die Kontrolle des Marktes durch die Menschen.

1. Die Finanzkrise als Chance

Die Finanzkrise hat mehreres bewiesen: Die falsche Mär der Ideologie des freien Marktes, die unheilvolle Macht der Finanzindustrie und Investmentbanken sowie die daraus resultierende Notwendigkeit der Existenz einer unabhängigen Kontroll- und Regulierungsinstanz; und zu guter Letzt: die Unabdingbarkeit, eine gerechtere Verteilungspolitik der erwirtschafteten Vermögen zu erreichen.

Doch wie soll diese Instanz in Zukunft aussehen, wer soll die unverzichtbaren Kontroll-, Regulierungs- und Verteilungsfunktionen wahrnehmen? Die schonungslose Eindeutigkeit, in welcher der gesamten Weltbevölkerung das Scheitern einer Finanz- und Wirtschaftsordnung vor Augen geführt wurde, erinnerte an den Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ in den Jahren 1989/90. Noch vor zwei Jahren, so hätte man meinen wollen, war die Chance für einen neuen Weg lange nicht mehr so sehr gegeben wie zuvor.

Allerdings gibt es einen signifikanten Unterschied zu damals: Das gescheiterte planwirtschaftliche System stand immer einem konkreten Konkurrenzmodell gegenüber, von dem es letztendlich geschluckt wurde. Diese konkurrierende Alternative scheint nun, zumindest in der Praxis, zu fehlen. Das ist das entscheidende Totschlag-Argument, welchem sich die neoliberalen Apologeten immer bedient haben und nun auch jetzt bedienen: „Tina – There is no alternative“! Diese starre Dogmatik kann bei der Unzulänglichkeit und Illegitimität des gegenwärtigen Systems nur noch sich selbst spotten. Fakt bleibt das Scheitern des real existierenden Finanzmarkt-Kapitalismus.

Was leise aus der allgemeinen Ratlosigkeit herausschallen müsste, ist der Ruf nach dem Akteur, welcher von einer fremdgesteuerten Politik über 30 Jahre lang stetig demontiert wurde: der Staat. Wann, wenn nicht jetzt bestünde die Pflicht, als auch der mehrheitliche Konsens, den unsäglichen Einfluss der Finanz- und Wirtschaftslobby zu bekämpfen, die Handlungsfähigkeit der Politik wieder herzustellen, und nicht zuletzt den verfassungsmäßigen Auftrag des Sozialstaates wieder ernstzunehmen? Seine Idee auf die supranationale Ebene zu hieven wäre der der letzte Schritt in Konsequenz und Vollendung.

Doch bisher hat die politische Elite grandios versagt. Deutlicher hätte der Welt der Ausverkauf politischer Entscheidungsgewalt und Handlungsfähigkeit nicht vor Augen geführt werden können. Die Finanzwirtschaft diktierte der Politik die Politik, machte sich selbst zum Gewinner der Krise und sozialisierte die Verluste der Spekulation. Wir haben die Götterdämmerung der Demokratie vor Augen.

Eine Globalisierung und eine Welt, die von den Interessen der Konzerne und des Finanzkapitals gelenkt und regiert wird, kann hingegen nur die Schreckensvision des 21. Jahrhunderts sein. Wenn die schon wankende, westliche Demokratie überleben soll, brauchen wir eine andere Globalisierung, eine neue Vision des Global-Governments und vor allem und zu allererst eine andere Europäisierung.

2. Demokratische Kontrolle

Fakt ist, die meisten Institutionen der EU sind nicht demokratisch legitimiert und intransparent. In Brüssel haben Lobbyisten massiven Einfluss auf die Gesetzgebung. Hier Bedarf es am dringendsten demokratischer Reformen, sprich wichtiger Kontrollmechanismen für intransparente, parlamentarische oder ministeriale Entscheidungsprozesse. Notwendig ist eine Demokratisierung der EU-Ministerien, des Rates der Europäischen Union und der Europäischen Kommission, als auch der Einführung von Volksabstimmungen auf europäischer Ebene.

3. Renaissance des Staates

Die Krise der Demokratie aber ist die Krise des Staates und umgekehrt. Hat der Staat nicht die größten zivilisatorischen Errungenschaften auf den Weg gebracht? Die Sozialsysteme, sprich Krankenversicherung, Unfallversicherung, Arbeitslosengeld, Altersvorsorge, sowie freie Bildung und Schulpflicht sind Elemente die bei der Zurückdrängung des Staates gegenwärtig zur Disposition stehen. Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit sind Errungenschaften, die mit dem Ausbau des Staates, seiner Institutionen und durch die Demokratisierung des Staatswesens ermöglicht wurden.

Der Staat hat bewiesen, dass er die einzige Instanz darstellt, welche – sowohl auf nationaler, und durch die konsequente Übertragung seiner demokratischen Institutionen auf die europäische Ebene – die wirtschaftliche Entwicklung gestalten, regulieren und sozial verträglich halten kann. Er alleine vermag eine umfassende Verteilungspolitik zu gewährleisten. Durch die Gestaltung und Wahrung der Grundrechte – und dabei sind die sozialen und politischen Rechte des Bürgers meines Erachtens elementar – bezieht der Staat seine historische Legitimität.

Was in den letzten Jahrzehnten zu beobachten war, ist jedoch das Gegenteil: der systematische Abbau seiner Befugnisse, die Vermengung hoheitlicher Gestaltungs- und Gesetzgebungsprozesse durch privatwirtschaftliche Akteure und damit die allmähliche Entdemokratisierung seiner Institutionen und zuletzt die Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge und des Staatseigentums. Dieser Prozess wurde durch eine Europäisierung hinter dem Rücken der Bürger verstärkt. Die Deutungshoheit des neoliberalen Zeitgeistes brachte eine Diskreditierung des vorsorgenden Interventionsstaates mit sich. Das Vertrauen der Menschen in die Rolle des Staates als Gestalter wurde dabei schwer geschädigt.

Mit dem Abbau des Nationalstaates wird den Bürgern aber das Instrument genommen, mit dem sie, beginnend mit der Französischen Revolution, ihre Interessen wahrnehmen konnten. Das führt gleichzeitig zu einer zunehmenden Entpolitisierung und Entmündigung der Gesellschaft. Der demokratische Zerfall im Willensbildungsprozess und die Erodierung des demokratischen Wohlfahrtsstaates als solidarisches Gemeinwesen wird dadurch zusätzlich beschleunigt. Nicht umsonst sind in den bornierten öffentlichen Debatten Schlagwörter wie „Verstaatlichung“ und „staatliche Intervention“ derart geächtet.

Ein Lichtblick bleibt. Durch die Finanzkrise werden allmählich verkrustete und dogmatische Denkstrukturen aufgebrochen. Zumindest das Gewicht in den öffentlichen Debatten und damit im öffentlichen Bewußtsein verlagert sich wieder zu ungunsten der neoklassischen Vertreter und Meinungsmacher. Linke Ökonomen, Keynesianer und Globalisierungskritiker erhalten dagegen zunehmend gehör. Und auch der Staat als Idee und Krisenmanager scheint sich von seinem Siechtum erholen zu können.

4. Europa der Bürger

Wichtig aber ist, dass der Staat nicht lediglich als kurzfristiger Rettungsanker instrumentalisiert wird, wie es im Zuge der Bankenrettungen geschehen ist, sondern die Grundlagen seiner Legitimität und das verlorene Vertrauen der Bürger wiedererlangt. Hier ist aber auch der Staatsbürger selbst in der Pflicht.

Eine grundlegende Ursache des Vertrauensverlustes ist „das Verschwinden einer gemeinsamen politischen Vision, eines politischen Willens„. Dieser muss aber wiederbelebt werden. „Öffentlichkeit bedeutete ursprünglich die Fähigkeit, den gemeinsamen Willen der Civitas herzustellen und durchzusetzen. Das Verschwinden dieses Politischen, der Idee eines Staates als politischem Gemeinwesen (Polis), ist die eigentliche Krise der Öffentlichkeit. Und so verstandene Öffentlichkeit existiert nicht einfach, man muss sie schon herstellen. Und es sind die Bürger, die dem stattfindenden Enteignungs- und Verwertungsprozeß Widerstand entgegensetzen müssen“ (Rüdiger Suchsland).

Dieses Engagement – in den Strassen von Athen, Paris und Stuttgart bereits in Grundzügen zu erkennen – muss sich die oben genannten, handlungsbefähigenden, staatlich-demokratischen Reformen zur Aufgabe erklären. Ziel kann nur sein, dadurch ein sozialstaatliches Europa im Interesse der Bürger und nicht ein Europa im Namen des Marktes von der Politik zu erzwingen.

Dies, in der ursprüngliche Gründungsvision der EWG von 1957 beabsichtigt, wäre eingetreten, wenn die EU eine echte Verfassung hätte, und alle ihre Organe demokratisch gewählt würden. Die Bürger hätten oben hinzugewonnen, was sie unten abgegeben haben. Ein solcher Machtzuschnitt ist nun aber über 50 Jahre hinweg gerade verhindert worden. Und die Zeit bleibt nicht stehen. Bleibt die Demokratisierung aus, wird der Traum eines vereinigten Europas, das von den Bürgern und nicht von globalen Finanzmärkten gestaltet wird, zu einer immer mehr verblassenden Fiktion (Siehe auch die Analyse von Macroanalyst).

Dass es Alternativen zu dem Global Governance der Finanzmärkte, bzw. der Herrschaft des Marktes geben kann, zeigt die experimentelle Entwicklung in Südamerika. Dort ist, zunehmend emanzipiert von der europäisch – nordamerikanischen Hemisphäre, bereits ein Machtblock im entstehen, der Alternativen zu dem „System Tina“ entwickelt.

Bei allem Abgesang; nicht das Ende der Staatlichkeit kann eine glaubhafte Vision bilden – vielmehr ihre soziale, demokratische und supranationale Reformierung. Es bleibt zu hoffen, dass Totgesagte länger leben.

 

Der Beitrag erschien ursprünglich bei le bohémien.

Kommentare

Schwach

Wie kommt denn so ein unkritischer beitrag hier rein?!
Staat, staat über alles?!
Ich spar mir konkretere kritik, oder gar hinweise. Nur so viel: Es ist falsch, den staat als absolute gegenkraft zu markt/ kapital etc. anzusehen. Das sind die beiden seiten des kapitalismus, sie können nicht ohne einander existieren. Und die antikapitalistischen staaten, ob aus der vergangenheit, oder der gegenwart, sind ja stark überwiegend auch schon länger keine sympathieträger mehr.
Spontan fallen mir noch diese punkte ein, die beim thema staat berücksichtigt werden müssen: Überwachung, waffengewalt gegen proteste und eingliederung der menschen ins wirtschaftliche system durch schulische und sonstige propaganda.

die Fragen WIE ein Staat

die Fragen WIE ein Staat letztendlich für eine Verbesserung des Status quo sorgen kann, wird in dem Artikel aber auch noch gar nicht gestellt. Ich glaube auch nicht, dass man dies in einem Artilel abhandeln könnte.

Als Impuls finde ich die hier vertetene Ansicht durchaus interessant. Staat heisst ja letztendlich auch Gemeinschaft und bietet somit eine Chance öffentliche Anliegen im Sinne des Gemeinwohls zu regeln. Sicher nicht unbedingt so wie dies heute vielerorts geschieht. Aber dafür plädiert der Artikel ja auch nicht.

Es gibt einen richtigen Staat

Unglaublich, soviel Kritik am Staat, aber kein einzigesmal einen richtigen Staat mit einer richtigen Regierung erwähnen.

Die Volksrepublik China

Zeigt wie ein Staat agieren muß, um seinen Bürgern einen dauerhaften Wohlstand zu sichern.