Magazin Beitrag

Tatort Netzwerk

Wie weit reichen die Kreise des rechten Terrors? Eine Bestandsaufnahme
Tatort Netzwerk
Bild von katerna

Als hätte das Jahr 2011 nicht bereits eine erschöpfende Anzahl an umwälzenden Entwicklungen hervorgebracht, entrollt sich seit dem 4. November die umfangreichste Serie von rechten Gewalttaten, welche die Bundesrepublik gesehen hat. Doch das ganze Ausmaß ist noch ungeklärt, denn aus den Puzzleteilen, die an die Öffentlichkeit drangen, fügt sich kein klares Bild zusammen. Viele Fragen bleiben offen. So ist nicht einmal geklärt, ob die Taten von einer Zelle oder einem Netzwerk verübt wurden. Welche Rolle spielten die Geheimdienste in der militanten rechten Szene? Die zahllosen Aspekte dieses Falles, die fortlaufend auftauchenden neuen Spuren in alle Himmelsrichtungen verwirren Ermittler, Journalisten und Öffentlichkeit. Dieser Bericht fügt zahlreiche Medienberichte und Analysen zusammen, um einen Beitrag zur Aufklärung zu leisten. Im Zentrum steht die Frage, ob die Taten einem Netzwerk rechter Gewalt zuzurechnen sind.

Die Protagonisten

Es war Freitag, kurz vor Mittag. Die Sonne schien auf die Kleinstadt Eisenach, als eine Polizeistreife in eine verschlafene Seitenstraße eines Vorortes einbog. Der Wagen hielt, denn die Beamten hatten gefunden, wonach sie suchten. Zwei Stunden zuvor wurde nur einige hundert Meter entfernt eine Sparkasse überfallen. Ein Zeuge hatte gesehen, wie zwei Männer auf einem nahe gelegenen Parkplatz ihre Fahrräder in ein Wohnmobil einluden und davon brausten. Nun stand vor den Polizisten ein Wohnmobil, in dem sie die Bankräuber vermuteten. Sie riefen Verstärkung, verließen ihr Auto und näherten sich mit gezogenen Waffen dem Wagen. Aber sie kamen nicht dorthin. Sie hörten mehrere dumpfe Geräusche, und das Wohnmobil ging in Flammen auf. Darin verbrannten die Leichen von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos.

Die Polizisten ahnten nicht, daß sie soeben das letzte Kapitel einer der rätselhaftesten Kriminalfälle dieses Landes aufgeschlagen hatten. Seitdem liegen vor einer schockierten Öffentlichkeit zahllose verstreute Puzzleteile einer Geschichte, die nicht recht Sinn ergeben will. Wenig wissen wir über die drei Protagonisten dieses Stückes: Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe stellen das Nazi-Trio dar, welches die Republik in Atem hält: Mundlos in der Rolle des Planers, Böhnhardt der Waffennarr, Zschäpe die devote Mitläuferin. Doch stimmt dieses Bild, das die Medien zeichnen? Wir wissen es nicht. Denn wir kennen ihre Motivation, ihre Persönlichkeit nicht. Die drei bleiben für die Öffentlichkeit eine Black Box. Daran ändert auch der Bekennerfilm wenig. Aus den schrägen Reimen, die Paulchen Panther in dem Mund gelegt werden, ergibt sich kein schlüssiges Motiv, kein Bekenntnis1. Selbst erfahrene Ermittler sind verblüfft von der eigensinnigen Machart dieses Filmes. Einzig der erste Satz verrät etwas über die Struktur: »Der nationalsozialistische Untergrund ist ein Netzwerk von Kameraden […].«

Die Taten aber waren sorgfältig geplant, nicht aus spontanem Hass, nicht im Affekt begangen. Die Täter kundschafteten die Tatorte vorher aus, hinterließen an diesen kaum Spuren, machten sich auf Fahrrädern aus dem Staub, luden sie in ihre Wagen, brausten davon und warteten nur ein kleines Stück weiter die Ringfahndung ab. Die Methoden der Polizei zur Fahndung waren ihnen also bekannt. Gefundene Aufzeichnungen belegen die penible Planung der Taten. Sie konnten funktionierende Bomben bauen oder bauen lassen. Sie fühlten sich ihren Opfern und dem Staat überlegen – dieses Detail verrät das skurrile Filmchen. Denn sie lebten dreizehn Jahre unerkannt im Untergrund. Dreizehn Jahre, in denen sie mordeten und raubten, und ihnen niemand auf die Schliche kam. Sie lebten mit einer falschen Identität – mit Decknamen2 und Legenden.

Auch heute noch sind die Geheimnisse dieser Gruppe, die sich Nationalsozialistischer Untergrund nannte, nicht aufgehellt. Ungeklärt bleibt, ob die Gruppe wirklich nur aus drei Personen bestand. Denn Geschichten lieben Protagonisten. Ungeklärt ist, wovon sie ihr Leben im Untergrund finanzierten. Wohnungen, Reisen und Waffenbeschaffung sind nicht billig. Nach bisherigen Stand wurden bei 14 Banküberfällen etwa 600 000 Euro erbeutet. Davon wurde jedoch 111 000 Euro in dem Wohnmobil gefunden, weiteres Geld soll an lokale Gruppen verschickt worden sein. Rechnet man 400 000 Euro auf dreizehn Jahre von 1998 bis 2011 bleiben am Ende 800 Euro pro Person und Monat – nicht gerade viel für eine Leben im Untergrund3. Allerdings tauchten auch Gerüchte auf, nach denen Böhnhardt als Paketfahrer gearbeitet haben soll.

Die Taten

Die Ermittler schreiben der Gruppe in den 13 Jahren im Untergrund zwei Serien zu4: Einerseits gehen mindestens 14 Banküberfälle 1999-2011 auf ihr Konto, alle in Ostdeutschland und vornehmlich in Zwickau und Chemnitz; andererseits 9 Morde an Migranten 2000-2006, mit einer Ausnahme alle in Westdeutschland begangen. Daneben wird der Gruppe ein Nagelbombenattentat in Köln 2004 mit zahlreichen Verletzten fest zugerechnet. Einzig der Mord an einer Polizistin in Heilbronn 2007 fällt aus dem Raster der ausländerfeindlichen Taten. Die Ermittler gehen davon aus, daß Böhnhardt und Mundlos alle Morde, Anschläge und Bankraube alleine begingen. Denn bisher sind für die direkte Beteiligung weiterer Personen keine stichhaltigen Indizien bekannt.

Zwischen 1999 und 2007 folgten Banküberfälle und Morde Schlag auf Schlag. Im Jahre 2001 reihten sich drei Morde im Abstand weniger Wochen, worauf dann zwei Jahre lang nur einige Banküberfälle belegt sind. Bislang ist kein logisches Muster in der Abfolge sichtbar. Ein Mord am 13. Juni 2001 in Nürnberg fiel auf den Tag des endgültigen Verbots von „Blood and Honour“ – Böhnhardt und Mundlos hatten für dieses Netzwerk in den 90er Jahren Konzerte veranstaltet. Ein weiterer Mord in München am 15. Juni 2005 erfolgte wenige Wochen auf die Verurteilung des Rechtsradikalen Martin Wiese, der für einen geplanten Anschlag auf eine jüdische Einrichtung angeklagt war – in unmittelbarer Nähe zu Wieses früherer Wohnung. Über diese zeitlichen Überscheidungen hinaus ist ein logisches Muster der gewählten Orte und Personen aber auf den ersten Blick nicht erkennbar – sieht man von der Aufteilung der Bankraube auf Ostdeutschland und der Morde und Anschläge mit einer Ausnahme auf Westdeutschland ab.

Allerdings wird auch ein Zusammenhang zu zahlreichen unaufgeklärten, spektakulären Straftaten untersucht: Der Anschlag auf die Wehrmachtsausstellung 1999 in Saarbrücken, ein Anschlag in Düsseldorf mit zahlreichen Verletzten 2000, eine Sprengfalle in Köln 2001, eine Serie von 11 Bränden in Völklingen 2006-2011, mehrere Sprengsätze auf jüdischen Friedhöfen in Berlin (1998 und 2002), ein Brand mit 9 Toten in einem Haus in Ludwigshafen 2008, sowie zwei weitere Morde 2001 in der Schweiz sowie 2011 in Döbeln.

Anfang 1998 tauchte die Gruppe in Jena mit Hilfe lokaler Nazigrößen unter. Ihr Aufenthaltsort in dem Jahr nach dem Abtauchen ist nicht bekannt – mitunter wurden sie im Ausland vermutet. Zwischen 1999 bis 2001 sollen sie in einer Wohnung im Süden von Chemnitz gelebt haben. Dabei erhielten sie laut Freier Presse umfassende Unterstützung durch die lokale Nazi-Szene. In diese Zeit fallen bereits 4 Banküberfälle nur in Chemnitz. 2001 zog die Gruppe offenbar nach Zwickau, wo ein Unterstützer ihnen zwei Wohnungen vermietete. Dort hatten sie bis zu ihrem Ende ihren Wohnsitz. Der niedrige Wasserverbrauch in Zwickau lässt allerdings eine umfangreiche Aufenthalte anderenorts vermuten – möglicherweise durch Reisen im In- und Ausland oder weitere Wohnsitze. Doch über das tatsächliche Bewegungsprofil wissen wir bislang wenig. Alleine zur Begehung ihrer bekannten Taten müssen sie jedoch tausende von Kilometern zurückgelegt haben.

Das Netzwerk

Mittlerweile sind etwa 20 Personen beschuldigt worden, dem engeren Umfeld des NSU anzugehören – mit klaren Schwerpunkt in der Region Thüringen und Sachsen. Doch die Gruppe reiste auch durch das Bundesgebiet. Hatten Sie Verbindungen oder Mitwisser an ihren Tatorten? Zählten hier weitere Personen zu ihrem Netzwerk?

»Kampfbund Deutscher Sozialisten« mit Thomas Gerlach (2.v.l.) und Axel Reitz (r.) Bild von Indymedia

An fast allen Schauplätzen der Attentate bestanden militante rechte Strukturen. In Nürnberg, wo alleine drei Morde ausgeführt wurden, ist ein lokaler Mitwisser belegt. Denn eine Bekenner-DVD wurde persönlich bei der lokalen Zeitung Nürnberger Nachrichten eingeworfen, die auch in dem Film selbst eingeblendet wird. In Köln dagegen, wo eine Nagelbombe explodierte, hat der WDR einen Zeugen ausgemacht, der Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe im November 2009 bei einer Veranstaltung der Freien Nationalisten Köln in Erlstadt gesehen hat. Der lokale Kader Axel Reitz habe diese persönlich eingelassen. Reitz hatte Kontakte zu Thomas Gerlach und zur Schweizer Partei Partei National Orientierter Schweizer (PNOS).

Die enge Verbindung des NSU-Umfeldes zu fränkischen Nazistrukturen hat Report München recherchiert. Als besonders aktiv galt hier bis zu ihrem Verbot Anfang 20045 die Fränkische Aktionsfront (FAF). Enge Verbindungen zwischen der Thüringer und der fränkischen Neonaziszenen sind bekannt. Einer deren Führungsfiguren der FAF, Matthias Fischer, wird auch in Zusammenhang mit den Netzwerken Blood & Honour sowie zu Combat 18 genannt. Die FAF pflegte auch Verbindungen zum Aktionsbüro Nord in Hamburg sowie zur Kameradschaft Süd in München. Das Aktionsbüro Nord bündelte zahlreiche Strukturen, so auch Blood & Honour „Sektion Nordmark“ und „Combat 18 Pinneberg“. Als führende Kader gelten Thomas Wulff und Christian Worch, der in Verbindung mit Reitz steht. Mitglieder der Kameradschaft Süd wurden wegen eines geplanten Anschlags am 9.11.2003 auf das jüdische Zentrum verurteilt – sie hatte den Konfidenten Didier Magnien in ihren Reihen, welcher die Gruppe angestachelt haben soll.

Eine der Morde des NSU in München wurde in unmittelbarer Nähe zur Wohnung des Kopfes der Kameradschaft Süd verübt – drei Wochen nach seiner Verurteilung 2005. Ein weiterer Mord in München 2001 wurde nahe des Nazi-Treffpunktes zum Glaskasten begangen. Eine direkte Verbindung zwischen dem Umfeld des NSU und der Kameradschaft Süd bestand durch Thomas Gerlach, der zusammen mit dem Gründer der Kameradschaft, Norman Borodin, führendes Mitglied im Kampfbund Deutscher Sozialisten war.

Ebenso bei dem Mord in Dortmund lag die Nazi-Kneipe „Deutscher Hof“ in unmittelbare Nähe. Aber auch die Kneipe „Störtebeker“ des als V-Mann enttarnten Sebastian Seemann war nur einige hunderte Meter vom Tatort entfernt. Seemann wurde dem Umfeld der Band Oidoxie zugerechnet, welche der Blood & Honour Szene ebenso nahe steht wie der militanten Gruppe Combat 18 Sauerland. Auch soll er enge Kontakte zur belgische Blood & Honour Szene gepflegt haben – so auch zur Gruppe „Bloed Bodem Eer Trouw“ (BBET), die 2006 wegen einer Reihe von geplanten Attentaten aufflog, die Islamisten in die Schuhe geschoben werden sollten. Neben Oidoxie, die beim »Thüringentag der nationalen Jugend« ein- und wieder ausgeladen wurden, unterhält Dennis Giemsch von den Autonomen Nationalisten Dortmund Kontakte nach Thüringen zu Ralf Wohlleben und nach Franken zum Freien Netz Süd. Giemsch und Oidoxie sind durch gemeinsame Veranstaltungen mit Christian Worch in Hamburg  bekannt.

Axel Reitz mit Christian WorchBild von Wikipedia

In der Zeit des Mordes in Hamburg (2001) war vor den Stadttoren die Gruppe Combat 18 Pinneberg aktiv (2001-2003), die zum Blood & Honour-Netzwerk zählt. Über das Aktionsbüro Nord bestanden darüber hinaus zahlreiche Kontakte zur rechten Szene in Niedersachsen sowie zu den Kadern Christian Worch und Thomas Wulff. Doch auch Rostock ist für eine starke rechte Szene bekannt und in Kassel findet sich ein Link nach Jena. So ist in Rostock die »Weiße Bruderschaft« der Hammerskins aktiv. Kassel ist dagegen der einzige Ort der Mordserie ohne eine starke rechte Szene – lediglich die Gruppe Freier Widerstand Kassel ist in dem Viertel des Mordes aktiv. Einer der Mitglieder, der CDU-Politiker Daniel Budzynski, hatte einen bewaffneten rosaroten Panther nach Bekanntwerden der Mordserie als Profilbild bei Facebook. Über ein anderes Mitglied findet sich eine vage Verbindung zu Blood & Honour.

Auch bei weiteren Verdachtsfällen, bei denen eine Täterschaft des NSU ungeklärt bleibt, wurde über Verbindungen berichtet. Bei den Bränden in Ludwigshafen und Völklingen hatte die Polizei vor dem Skandal einen rechten Hintergrund ausgeschlossen. In Völklingen im Saarland kam es zu einer Serie von 11 Brandstiftungen, die eine ausländerfeindliche Motivation nahelegen. An diesem Ort erhielt eine Moscheegemeinde eines der Bekennervideos des NSU  – auch hier war die Sendung nicht frankiert. Bei 11 Fällen erscheint eine Täterschaft durch die Thüringer jedoch eher unwahrscheinlich. Stehen sie jedoch in einer Beziehung zu den Tätern, so deutet dies auf ein kriminelles Netzwerk hin. Auch bei dem Bombenanschlag auf die Wehrmachtsausstellung im nahen Saarbrücken steht der NSU im Verdacht.

Neu untersucht wird auch ein Brand in einem Haus in Ludwigshafen 2008, bei dem 9 Menschen ums Leben kamen. Laut Berliner Zeitung wird Malte Redeker der Urheberschaft verdächtigt, der als führende Figur der Hammerskin Nation gilt. Ein weiteres Mitglied der Hammerskins und des Aktionsbüros Rhein-Neckar in Ludwigshafen wohnte in unmittelbare Nähe zu dem Haus am Danziger Platz. Nach dem Bericht hatte Redeker Kontakte zu dem sächsischen Hammerskin Thomas Gerlach, der zum Umfeld des NSU gerechnet wird. Ebenso soll bei ihm der rechte Barde Daniel Giese aufgetreten sein. Ein bemerkenswerter Hintergrund zu den Bränden in Völklingen und Ludwigshafen ist die enge Verbindung der Hammerskins (als Chapter Westmark in Rheinland-Pfalz und im Saarland) zwischen diesen beiden Regionen. Die DVD wurde in Völklingen offenbar persönlich eingeworfen – im Nachbarort Bous wohnt ein führender Hammerskin. In dieser Region haben die Hammerskins Kontakte ins nahe Ausland und werden als Nachfolgeorganisation von Blood & Honour gesehen.

Aufsehen erregt hat der Meppener Daniel Giese mit dem Lied „Döner-Killer“, das bereits 2010 auf der indizierten CD „Adolf Hitler lebt!“ die Taten des NSU verherrlichte. Die Polizei versuchte in den 90er Jahren erfolglos, Giese eine Beteiligung bei der Band Zillertaler Türkenjäger nachzuweisen – auch in diesem Fall ist der juristische Nachweis eines Mitwissertums Giese und seiner Band „Gigi und die Braunen Stadtmusikanten“ fraglich. Allerdings soll er über seinen Vertrieb eine direkte Verbindung zu Blood & Honour haben. Seine Gruppe trat 2006 beim „Fest der Völker“ auf, einem internationalen Treffpunkt der Szene von Blood & Honour.

Neben dieser Fülle an Indizien für ein deutschlandweites Netzwerk wurde auch über Verbindungen ins Ausland berichtet: Insbesondere Ungarn, Bulgarien, die Schweiz und Belgien wurden genannt. Laut einem Bericht der Frankfurter Allgemein Sonntagszeitung sollen Zielfahnder des BKA die Gruppe 1998 in Budapest und 2000 in Bulgarien aufgespürt haben. Laut dem Spiegel sollen diese Aufenthalte zur Vorbereitung einer gescheiterten Ausreise nach Südafrika gedient haben – diese Spur hat auch der BND sowie das BKA verfolgt. Ziel sei die Ranch des ausgewanderten Rechtsradikalen Claus Nordbruch gewesen. Auf der Ranch hatte bereits u.a. der V-Mann Tino Brandt Schießübungen abgehalten6. Auch ein Aufenthalt in der Schweiz 1998 scheint belegt zu sein – von dort stammte auch die Ceska-Pistole, die bei der Mordserie benutzt wurde.

Der Anfang und das Umfeld

Landesamt für Heimatschutz Bild von Indymedia

Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe haben ihre Karriere in der rechtsradikalen Szene in Jena innerhalb des Thüringer Heimatschutz (THS) begonnen, der als Netzwerk und Dachverband zahlreicher rechter Kameradschaften in dem Bundesland fungierte. Die Organisation geht auf das Jahr 1994 unter dem Namen Anti-Antifa Ostthüringen zurück und war offenbar von Anfang an ein von Thüringer Verfassungsschutz initiiertes Sammelbecken für Neonazis. Der THS wiederum wird dem internationalen Netzwerk Blood & Honour zugerechnet. Die führenden Mitglieder der „Heimatschützler“ Ralf Wohlleben und André Kapke organisierten 2005-2009 maßgeblich fünf Musikfestivals unter dem Label „Fest der Völker“, auf dem zahlreiche Redner und Bands der internationalen Blood & Honour (B&H) - Szene auftraten. Diese Veranstaltung galt als Schnittstelle zur Vernetzung deutscher und internationaler Rechtsaktivisten und verdeutlicht, daß der THS keine rein regionale Organisation war, sondern als deutschlandweite und internationale Schnittstelle fungierte.

Neben dem Thüringer Heimatschutz gilt auch die Weiße Bruderschaft Erzgebirge (auch Brigade Ost genannt) von André Eminger und Matthias Dienelt als Rückhalt für die die drei zentralen Figuren des NSU, die in deren unmittelbaren Aktionsradius in Sachsen untertauchten. Auch diese Organisation wird in zahlreichen Analysen den Netzwerken Blood & Honour sowie Hammerskin Nation zugerechnet. Als dritte Unterstützergruppe werden Maik Scheffler und Thomas Gerlach genannt. Diese gelten als führende Figuren des Freien Netzes (FN)7, einem Zusammenschluss von Kameradschaften. Daneben sollen die beiden ebenso zur sächsischen Gruppe des internationalen Netzwerks Hammerskin Nation (HN) zählen.

Thomas »Ace« Gerlach Bild von Indymedia

Insbesondere Thomas Gerlach wird als Organisator des NSU verdächtigt – Bilder zeigen ihn zusammen mit André Kapke beim „Fest der Völker“ – die Gruppierungen waren engstens verknüpft. Thomas Gerlach ist auch insofern eine interessante Figur, da er über zahlreiche Kontakte verfügte. Er organisierte mit André Kapke und Ralf Wohlleben den Thüringer Heimatschutz und das Fest der Völker. Aber er kannte auch Matthias Fischer in Nürberg, Axel Reitz in Köln und Norman Borodin in München über den Kampfbund Deutscher Sozialisten, Malte Redeker über die Hammerskins in Ludwigshafen, der wiederum ins Saarland seine Leute hat, sowie auch Christian Worch in Hamburg – auch in Rostock ist er nicht unbekannt, darüber hinaus in der Schweiz. In Sachsen war er einer der besten organisierten Kader mit Kontakten zum Label Chemnitz Concerts 88 – und somit (s.u.) in das direkte Umfeld der Gruppe.

Bühne beim Fest der Völker mit Banner von »PC Records« Bild von Indymedia

Laut eines Berichts des Spiegels (Der Spiegel 01/2012), der sich auf ein geheimes Auswertungspapier des Verfassungsschutzes für die Parlamentarischen Kontrollkommissionen stützt, war neben Ralf Wohlleben der Chemnitzer Jan Botho Werner die bedeutendste Kontaktperson der Terror-Gruppierung in der ersten Zeit des Abtauchens. Dieser soll ebenfalls der Weißen Bruderschaft Erzgebirge angehören und als Veranstalter von Chemnitz Concerts 88 aufgetreten sein und das Label Movement Records in der Stadt am Erzgebirge betrieben haben. Somit zählt er auch in das Netzwerk von Blood & Honour und den Hammerskins. Werner soll laut dem Spiegel-Bericht versucht haben, für Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe Waffen zu besorgen.

So zählen nach dem Spiegel-Bericht Ralf Wohlleben und Jan Werner als regste Organisatoren im inneren Kreis des NSU. Diese Version wird auch einem internen Bericht der TLfS gestützt, der dem Focus vorliegt und offenkundig auch in das Auswertungspapier einfloss, das dem Spiegel vorliegt. Doch diese Geheimdossiers beziehen sich nur auf den Zeitraum nach dem Untertauchen.

Im näheren Umfeld des NSU existieren also zahlreiche Schnittstellen zu den beiden internationalen Netzwerken Hammerskins (auch Hammerskin Nation) sowie Blood & Honour. Auch nach seinem Verbot 2000 blieb letzteres Rückgrat der rechten Musik-Szene durch zahlreiche Kontakte. Unverständlich bleibt das Stelldichein seiner internationale Szene beim „Fest der Völker“, das trotz des Verbotes der Organisation in Deutschland stattfinden konnte. Daneben bestanden Nachfolgeorganisationen wie die Division 28 – die Zahl steht für die Anfangsbuchstaben B und H.

Doch auch Böhnhardt und Mundlos selbst waren in den 90er Jahren an der Organisation von Blood & Honor – Konzerten beteiligt. WDR Monitor hat die Parallelen zwischen der Strategie von Blood & Honour und den Taten des NSU herausgearbeitet: Einen Rassenkrieg durch kleine Zellen ohne Bekennerschreiben führen. Genau diese Strategie hat der NSU in die Tat umgesetzt.

Die Bedeutung der Netzwerke Blood & Honour sowie der Hammerskins für den NSU kann nur durch weitere umfangreiche Untersuchungen aufgedeckt werden. Beide koordinieren Veranstalter, Labels und Bands rechtsradikaler Rockmusik. Hammerskin Nations stammt ursprünglich aus den USA und ist nach dem Vorbild von Rockerbanden in Chaptern organisiert und somit fester strukturiert als Blood & Honour. B & H wurde in den 80er Jahren in England gegründet und Anfang der 90er Jahre nach Deutschland importiert. Durch die Gründung des militanten Flügels Combat 18 1993 wurde die Organisation weiter radikalisiert. Von Combat 18 stammt die paramilitärische Strategie des „Leaderless Resistance“, an der sich offenbar auch der NSU orientierte. Anfang der 90er Jahre breitete sich B & H auch in Deutschland aus. Innerhalb der Organisation gab es Deutschland nach dem Verbot 2000 Konflikte um den weiteren Kurs zwischen einer kommerziell orientierten und einer politischen Fraktion.

Zwischen den Hammerskins und Blood & Honour bestand Konkurrenz, doch wurde bei zahlreichen personellen Überscheidungen auch eng kooperiert. Einige Analysen sehen Hammerskin Nation in Deutschland als Auffangbecken für das verbotene Blood & Honour. Erst durch die Aufdeckung der persönlichen Kontakte und Kontinuitäten können die rechten Strukturen nachvollzogen werden.

Fakt ist, daß sich die drei Protagonisten des NSU in einem Umfeld dieser beiden Dachorganisationen bewegten. Ohne die Mithilfe dieses Umfeldes war das Leben im Untergrund nicht denkbar. Fakt ist auch, daß diese Netzwerke an zahlreiche Tatorten präsent waren. Dies beweist jedoch nicht, daß für die Taten nicht eine Zelle, sondern ein bundesweites oder sogar internationales Terrornetzwerk verantwortlich ist. Doch der Blickwinkel bei den Recherchen und Ermittlungen verschiebt sich auf diesen Zusammenhang. So gibt es zahlreiche Indizien für ein umfassendes Terrornetzwerk:

  • Der NSU tauchte in einem Umfeld der beiden Organisationen Blood & Honour sowie Hammerskins unter. Die wichtigsten Unterstützer stehen in diesem Zusammenhang. Thüringen bzw. Sachsen galten als zeitweise aktivsten Regionen dieser Zusammenhänge. Insofern befand sich der NSU nicht an der Peripherie, sondern am Zentrum dieser Netzwerke.

  • Böhnhardt und Mundlos haben tausende Kilometer im Bundesgebiet zurückgelegt. Sie haben ihre Anschlagziele genau ausspioniert. Bislang ist ungeklärt, wo sie sich dabei aufhielten.

  • Der berichtete geringe Wasserverbrauch in Zwickau legt längere Aufenthalte anderenorts nahe.

  • Sie orientierten sich offenbar an der Strategie von Blood & Honour bzw. Combat 18. Eine Verantwortung für weitere ungeklärte Terroranschläge in Düsseldorf, Saarbrücken, etc. ist zwar fraglich. Bezeichnend ist dagegen, daß sich niemand zu diesen bekannte, so daß ein ideologischer Zusammenhang zu untersuchen ist. Aus dieser Ideologie heraus wurden auf Anschläge in England und Belgien umgesetzt bzw. geplant.

  • Sie konnten zu diesem Netzwerk durch Kontakte im In- und Ausland zurückgreifen. Es liegen glaubhafte Aussagen vor, nach denen die Gruppe sich in Ungarn, Bulgarien und der Schweiz aufhielt. In diese Länder sind Kontakte von ihrem Umfeld beim „Fest der Völker“ belegt.

  • An den Tatorten hat es Kontaktpersonen und Unterstützer gegeben. Auch wenn eine direkte Verbindung zwischen Netzwerk und Taten bislang nur in wenigen Fällen belegt ist, bestanden an zahlreichen Tatorten Strukturen dieses Netzwerkes.

  • Das Vorgehen bei den Banküberfällen, Morden und Bombenanschlägen zeugt von einem professionellen Vorgehen, das vor dem Abtauchen nicht ersichtlich ist. Daher stellt sich die Frage nach einer entsprechenden Ausbildung.

  • Die Bekenner-DVD wurde an zumindest zwei Orten, in Nürnberg und Völklingen persönlich eingeworfen –auch hier müssen die Personen eingeweiht gewesen sein.

  • Auf der Bekenner-DVD wird der NSU als »Netzwerk« bezeichnet.

Bislang ist das Bild einer Zelle eines terroristischen „Nazi-Trios“ mit „Unterstützern“ vorherrschend. Dabei ist fraglich, ob die etwa 20 Personen im direkten Umfeld lediglich in der passiven Rolle als Unterstützer zu sehen sind. Dieser Kreis hat – mit Schwerpunkt in der Region Thüringen und Sachsen – das Untertauchen erst ermöglicht und offenbar auch die Bekennerfilme hergestellt. In diesem Sinne zählt zumindest der harte Kern direkt zur NSU und nicht als Unterstützer. Darüber hinaus steht die Frage im Raum, ob ein terroristisches Netzwerk im Bundesgebiet oder sogar international besteht. Beziehungen zu lokalen Gruppen erscheinen denkbar – vielmehr ist unwahrscheinlich, daß der NSU nicht auf bestehende Kontakte zurückgriff, wie dies bereits beim Abtauchen in Sachsen zutraf. Selbst ein internationale terroristische Struktur ist nicht auszuschließen – wie beispielsweise ein Bezug zur belgischen BBET.

Am Rande

Die eigentümliche Verquickung von Verbindungen wird auch an einem Beispiel deutlich: So spielt auf einer früheren Version der Bekennerfilme, die in den Trümmern der Zwickauer Wohnung gefunden wurde, im Hintergrund die Musik der Rechtsrock-Band Noie Werte. Der Sänger der Band und Anwalt, Stefan Hammer, arbeitete in der Kanzlei H3 zusammen mit der Anwältin Nicole Schneiders, welche nun Ralf Wohlleben vertritt, welcher als einer der wichtigsten Organisatoren für den NSU beschuldigt wird. Hammer wiederum war an der Gründung des Labels German-British Friendship (GBF) beteiligt, durch welches das Britische Blood & Honour Netzwerk maßgeblich in Deutschland verbreitet wurde. Laut dem Antifaschistischen Infoblatt (Nr. 49) soll GBF zusammen mit Carsten Szczepanski 1993 eine Platte produziert haben. Szczepanski wurde später V-Mann des Brandenburger Verfassungsschutzes, der durch seine Verbindung zu Jan Werner Informationen über den NSU an den Dienst weiterleitete. Eine kleine Welt!

Die Ermittler und die Dienste

Eben diesen Verbindungen nachzuspüren, ist eigentlich die Aufgabe des Verfassungsschutzes. Doch der Thüringer Verfassungsschutz (TLfV) unterstützte den Aufbau des Thüringer Heimatschutzes (THS): Eben der Brutstelle des NSU als auch Netzwerkknoten der später verbotenen Blood & Honour.

Erklärungsbedürftig sind sowohl die 200 000 DM, die auf Veranlassung vom TLfV-Chefs Helmut Roewer an den Spitzel Tino Brandt flossen, als auch die Natur dieses Verhältnisses. Roewer wurde beschuldigt, über schwarze Kassen Spitzel auf eigene Rechnung geführt zu haben. Er selbst wiederum ließ gegenüber der Zeit verlauten, die Polizei habe die rechten Strukturen gewarnt und sprach von „Informationsabflüssen“. Darüber hinaus meinte er gar, das Abtauchen des NSU, die vor dem Durchsuchen ihrer Bombenwerkstatt einfach davonfuhren, sei auf Veranlassung höherer Stellen „absichtsvoll schiefgelaufen“. Er schob also, nachdem der TLfV unter seiner Leitung der Deckung des NSU verdächtigt wurde, den schwarzen Peter zurück ans LKA. Die 2000 DM, die der TLfV dem Trio für falsche Papier zukommen lassen wollte, sollten bei der Aufklärung ihres Aufenthaltsortes helfen – ein merkwürdiges Vorgehen, zumal das Geld in keiner Abrechnung auftauchte. Darüber wurde der NSU möglicherweise vom TLfV durch Tino Brandt alimentiert.

Neben Tino Brandt führte der Thüringer Verfassungsschutz zwei weitere Quellen beim Thüringer Heimatschutz. Darunter unter dem Deckname „Riese“ Marcel Degner, den Chef der Thüringer Blood & Honour – Sektion.

Fakt ist, daß der NSU aus einer vom TLfV mit aufgebauten Struktur entstand und bereits in ihrer Jenaer Zeit prototerroristische Taten unter den Augen der Verfassungsschützer beging. Fakt ist auch, daß sie unter den Augen der Polizei abtauchten und der TLfV nicht verhinderte, daß sich Mundlos neue Papiere in Sachsen besorgen konnte.

Auch führte eine Observation in Chemnitz nach ihrem Abtauchen nicht zum Erfolg. Hierzu kursieren bislang widersprüchliche Versionen: Einmal sollen Zschäpe und Böhnhard nur für wenige Sekunden vor einer kameraüberwachten Wohnung in Chemnitz erschienen sein, ohne hineinzugehen (2000). Dabei sollen sich VS und LKA auf den Füßen gestanden sein, indem sie beide diese Wohnung überwachten und dabei gegeneinander gearbeitet haben. Dann wiederum ist von Observationsfotos aus mehreren Jahren (2000 und 2002) die Rede. Laut MDR war gar ein LKA-Zugriff geplant, welcher auf höhere Intervention hin abgeblasen wurde, was zu Protesten der Ermittler geführt haben soll. Zumindest sollen sowohl LKA Thüringen als auch das BKA Zielfahnder nach Chemnitz vor Ort geschickt haben. Eine weitere Version der Geschichte findet sich im Spiegel (01/2012). Auch hier bleibt jedoch weiterhin ungeklärt, warum die Ermittlungen später im Sande verliefen und nicht weiterverfolgt wurden. Niemand erinnerte sich beim Verfassungsschutz an den Fall, als die SoKo Bosporus eine Anfrage zu einem rechten Hintergrund an die Dienste startete.

Ein Schritt zur Aufklärung der wahren Geschichte in Chemnitz können nur die Untersuchungsausschüsse der Parlamente leisten – schließlich sind die Behörden hier keine sachlichen Beobachter, sondern Beteiligte. Die unterschiedlichen Versionen zu der Observation in Chemnitz sind für die Bewertung der Rolle der Behörden von zentraler Bedeutung. Denn falls ein Zugriff von höherer Stelle verhindert worden ist, kann von Pannen kaum noch die Rede sein. Neben dieser unklaren „Pannenserie“ wirkt umso erstaunlicher, daß die Ermittlungsbehörden keine Beziehung zwischen der Bankraubserie in Zwickau und Chemnitz und den abgetauchten und als gewaltbereit bekannten Nazis zogen. Schließlich wussten sie von ihrem Aufenthalt in Chemnitz; weitere Straftaten hätten die Einstellung des Ermittlungsverfahrens verhindert.

Die bekannt gewordenen Fakten reichen für den Nachweis einer Verstrickung der Behörden nicht aus – für eine Entlastung allerdings auch nicht. Von einer echten Aufklärung kann bislang nicht die Rede sein: Noch haben die federführenden Beamten nicht vor einem Untersuchungsausschuss ausgesagt.

Zur Aufklärung bedarf es der Enttarnung aller V-Männer und verdeckten Ermittler zu dieser Zeit. So soll neben den drei Spitzeln, die der TLfV beim THS zumindest führte, der Bundesverfassungsschutz zu der fraglichen Zeit den Chef der sächsischen Hammerskins Mirko Hesse als Spitzel beschäftigt haben. Der Brandenburger Verfassungsschutz bekam Informationen aus Chemnitz von seinem Spitzel Piato in Königs-Wusterhausen. Carsten Szczepanski stand laut Spiegel als Unterstützer der Band Landser in engen Kontakt zu Jan Botho Werner, der den Aufenthaltsort der Gruppe gekannt haben soll.

Somit verfügten unterschiedliche Verfassungsschutzbehörden über drei Quellen im unmittelbaren Umfeld. Ein Bericht der Leipziger Volkszeitung, nach denen Beate Zschäpe gar als Informantin gedient habe, erhärteten sich bislang nicht. Dennoch ist fraglich, ob die Geschichte vom Scheitern der Behörden an mangelnden Informationsfluss bei einem so engen Konfidentennetz haltbar ist.

Bereits die Meldung vom Zurückpfeifen eines Zugriffs in Chemnitz wurde umgehend vom LKA in Thüringen dementiert – hier gilt zu klären, ob die Behauptung, das LKA habe zu keinem Zeitpunkt den Aufenthaltsort gekannt, nicht voreilig war. Ebenso eilig dementierten der baden-württembergische Landesverfassungsschutz sowie der Bundesverfassungsschutz eine Geschichte des Sterns. Dieser stütze sich auf einen Observationsbericht des amerikanischen Militärabschirmdienstes DIA, nach dem Agenten des Verfassungsschutzes den Polizisten-Mord in Heilbronn beobachtet haben. Demnach wären die Rechtsterroristen 2007 bei einer Waffenübergabe mit dem V-Mann Mevlüt Kar gestört worden, der eigentlich auf die sog. Sauerlandzelle angesetzt war. Auch wenn diese Geschichte auf so manchem Redakteur als eine Schraubendrehung zu viel in dem Fall wirkte, wurde hier der ungeklärte Mord erstmals in einen plausiblen Kontext gesetzt – zumal diese Version durch weitere Aussagen in dem Stern-Bericht gestützt wird.

Zumindest ist der dargestellte Hintergrund plausibler als die jüngste Geschichte des BKA, nach denen die Polizisten auf der Theresienwiese über den Haufen geschossen wurden, um an deren Waffen zu kommen. Sie widerspricht nicht zuletzt dem planvollen Vorgehen bei allen anderen Taten. Das Dementi auf die Stern-Geschichte kam schneller als eine umgehende und sorgfältige interne Prüfung benötigt hätte – zumal die Behörden lediglich sich selbst entlasten.

Ein Dreh zu viel war auch der Mord an dem Betreiber eines Internetcafés ein Jahr zuvor am 6. April 2006 in Kassel. Dort war ein Verfassungsschützer zugegen, der sich verdächtigt machte, indem er sich nicht bei der Polizei meldete – angeblich, da er die Suche nach sexuellen Kontakten vor seiner Frau verbergen wollte. Der Mann führte allerdings nach einigen Berichten Agenten im Referat Ausländerkriminalität und war ein krasser Rechtsextremer, der auch Literatur zu Serienmorden besaß. Seine Anwesenheit mag Zufall gewesen sein, doch verwundert sein Hintergrund ebenso wie die Aussage des hessischen Innenministers, der eine vom Bundesanwalt verlangte Akteneinsicht als „feindlichen Akt“ bezeichnete.

Solche Aussagen erhöhen das Vertrauen in die Behörden ebenso wenig wie vorschnelle Dementi. Ohne eine umfassende Aufklärung durch unabhängige Instanzen, welche keiner Regierung weisungsbefugt sind, wird der Ruch der Verstrickung an den Behörden haften bleiben – nicht zu unrecht.

Neben den Verstrickungen von Verfassungsschutz und Kriminalämtern kursierten Berichte, nach denen sich der BND für den Fall interessiert haben soll. Auch soll der MAD nach dem Verbleib von verschwundenen Sprengstoff geforscht haben, der in die Hände des NSU gelangt sein soll. Bestätigt sind diese Meldungen nicht, sollen aber der Vollständigkeit halber hier erwähnt sein.

Das Ende

Nach beinahe 13 Jahren im Untergrund, vom 24. Januar 1998 bis zum 4. November 2011 fanden zwei Polizisten das Wohnmobil, in denen sich Mundlos und Böhnhardt nach einem Banküberfall versteckten, in einem ruhigem Vorort von Eisenach. Nach einem Bericht der Thüringer Allgemeinen Zeitung hatte die Gothaer Polizeidirektion bereits durch den Banküberfall in Arnstadt die Strategie der beiden durchschaut. Daher suchte sie gezielt nach einem Wagen, in dem die Fahrräder verladen wurden. Ein Zeuge soll eine solche Szene bei einem nahe gelegenen Baumarkt beobachtet haben, so daß das Wohnmobil einige hundert Meter entfernt entdeckt wurde. Als die zwei Polizisten sich näherten, sollen sie dumpfe Geräusche gehört haben. Diese sollen von den Schüssen einer Maschinenpistole stammen, die jedoch darauf Ladehemmung hatte. Daraufhin habe Mundlos Böhnhardt erschossen, das Wohnmobil in Brand gesetzt und sich selbst gerichtet. Die zeitweise kursierende Geschichte von einer dritten Person, die vor dem Eintreffen von dem Wohnmobil wegrannte, konnte bislang nicht bestätigt werden.

Dennoch bleiben bei der Darstellung einige Fragen offen: So wurden nach diesem Bericht keine Durchschusslöcher und nur ein Projektil gefunden. Auch sollten Polizisten „dumpfe Geräusche“ und Schüsse unterscheiden können. Unklar bleibt auch, wie das Wohnmobil in Brand geriet. Bei der schnellen Ausbreitung müssen Brandbeschleuniger im Einsatz gewesen sein. Ebenso entsteht in einem Wohnmobil bei einem Brand durch das geringe Volumen innerhalb von kürzester Zeit dichter Qualm, durch welchen die Insassen schnell ohnmächtig werden. Ohne daß die beiden Terroristen den Wagen für den Fall der Entdeckung entsprechend präpariert haben, scheint der geschilderte Ablauf fraglich. Die gleiche Frage stellt sich für die Explosion des Wohnhauses in Zwickau. War die Wohnung für den Fall der Entdeckung durch Sprengstoff und Zeitzünder präpariert? Entsprechende Brandgutachten sind bislang nicht bekannt. Hörten Mundlos und Böhnhardt den Polizeifunk ab und wussten von der herbeigerufenen Verstärkung? Auch zum Verbleib der angeblich in den Wagen geladenen Fahrräder wurden keine Angaben gemacht. Nicht zuletzt ist durch die offenbar teils verbrannten Leichen der forensische Nachweis eines Selbstmordes erschwert – wenn ein zweifelsfrei sicherer Nachweis überhaupt möglich ist. Die ermittelnde Polizei muss sich daher den Vorwurf einer miesen Öffentlichkeitsarbeit gefallen lassen.

Bewertung in den Medien

Die meisten Beobachter können in den Puzzleteilen kein Gesamtbild erkennen und wollen aus den bekannt gewordenen Fakten keine Schlüsse ziehen: Zu dünn und Bruchstückhaft seien die Erkenntnisse. Diese Sichtweise wird von den meisten Medien geteilt. Sehr unterschiedlich ist dagegen die Bewertung der Rolle des Staates. Wenig Verständnis zeigt Nils Minkmar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für die Pannenserie der Behörden: „Wenn man es hätte wissen wollen, hätte man es wissen können.“ Er erinnert an die vielen terroristischen Gruppen der Vergangenheit, die von Geheimdiensten unterwandert waren: „Verfolgt man die Spur des Terrors nur lange genug, endet man vor einem geheimen Dienstgebäude.“ Nur durch unabhängige Untersuchungsausschüsse und Kommissionen könne eine Aufklärung erwachsen, meint Markus Bernhardt in der jungen Welt. Genervt von vielen Mutmaßungen ist dagegen Hans Leyendecker in der Süddeutschen Zeitung: Er beschimpft die Blogger und Journalisten, die allzu leichtfertig die unbestätigte Geschichte über eine dritte Person in Eisenach wiedergeben, als „Verschwörungsjunkies und „Rauner“. Damit stellt sich Leyendecker gegen die verbreitete Mutmaßungen über eine Verstrickung der Dienste. Jedoch wird er selbst zum „Rauner“, wenn er die fragwürdige und auf dünnstem Eis laufende Version des BKA auf die Titelseite hievt, nach der als Motiv für den Polizistenmord von Heilbronn der Waffenfetischismus von Böhnhardt und Mundlos präsentiert wird.

Fazit

Die Schwierigkeit in dem Fall um den „Nationalsozialistischen Untergrund“ besteht in der fortlaufenden Ausweitung der Fakten und Beziehungen. Die Täter aus der ersten Reihe sind tot oder schweigen. Über die Aussagen des verhafteten Umfelds ist wenig bekannt. Die Medienberichte stützen sich zu einem guten Teil auf Aussagen von Ermittlern gegenüber Journalisten und Ausschüssen – sie sind somit gefiltert. Aussagen über die Gruppe sind Schlussfolgerungen aus zahlreichen Puzzleteilen und somit unvollständig. Die Medien haben zahlreiche Aspekte der Gruppe recherchiert. Doch obwohl hier gute Arbeit geleistet wurde, finden sich kaum Beiträge, welche die Puzzleteile zusammenfügen.

Bild von Darwin Peacock

Die zentrale Frage ist, wie die Gruppierung zu charakterisieren ist: Netzwerk oder Zelle? Bislang war zumeist die Rede von einem terroristischen Trio und deren Unterstützer. Diese Darstellung ist kaum zu halten, denn schon das lokale Umfeld in Thüringen und Sachsen waren offenkundig nicht nur Mitwisser, sondern haben durch Logistik und Kontakte das Leben im Untergrund die Taten erst ermöglicht. Dieses Umfeld war Teil von deutschlandweiten und internationalen Netzwerken. Die Ermittlungen haben bislang kaum beteiligte Strukturen an den Tatorten nachweisen können. Doch Kontakte haben offenbar bestanden – an einigen Orten wie in Köln oder Nürnberg haben Medienberichte direkte Verbindungen aufgezeigt. Die engen Kontakte der Führungsfiguren der organisierten und militanten Rechtsradikalen decken sich mit zahlreichen Tatorten. Ein Beweis für eine Mittäterschaft ist dies freilich noch nicht. Doch wenn das Netzwerk sich mit der Spur des Terrors deckt, kann von Zufall keine Rede sein. Der Nachweis eines bundesweiten terroristischen Netzwerkes würde die Bewertung des NSU fundamental verändern.

Darüber hinaus drängt sich ein weit umfassenderer Verdacht auf: Weitere ungeklärte Taten mit rechtsterroristischem Hintergrund wie die Brände in Ludwigshafen und Völklingen wurden von dem gleichen Netzwerk begangen. Dazu zählt auch der Anschlag auf die Wehrmachtsausstellung in Saarbrücken – das gleiche Resultat hat aber auch der Nachweis einer Verbindung zur Kameradschaft Süd, die einen Anschlag in München plante: eine terroristische Struktur, die über einzelne Täter hinausreicht. Das verbindende Glied ist die Strategie des Führungslosen Widerstandes (Leaderless Resistance) von Blood & Honour. Denn auch zu den  weiteren ungeklärten Bränden und Anschlägen in Ludwigshafen, Düsseldorf, Saarbrücken, Völklingen und Köln hatte sich niemand bekannt8.

Die Verfassungsschutzbehörden hatten im Umfeld der Gruppe gleich mehrere Informanten platziert. Die erfolglose Fahndung ist schwer zu erklären. Die Darstellung der fehlgeschlagenen Fahndung als „Pannenserie“ ist nicht ausreichend belegt. Sie erscheint vorerst als Schutzbehauptung. Eine Übersicht über alle platzierten Spitzel im Umfeld existiert ebenso wenig wie zu allen Aktionen der Zielfahnder. Unerklärt bleibt auch, warum nach dem beträchtlichen Aufwand, der anfangs betrieben wurde, später die Ermittlungen nicht weiterverfolgt wurden.

Das Vorgehen der Geheimdienste in der rechten Szene ist nicht aufgeklärt. Die Dienste bauten rechte Strukturen auf und finanzierten sie. Das bedeutet, sie betätigen sich in der Steuerung der rechtsradikalen Szene statt durch Aufklärung. Einmal mehr sitzen die V-Leute in führenden Positionen. Mit dem Thüringer Heimatschutz hat der Thüringer Verfassungsschutz die Keimzelle des Terrorismus aufgebaut. Die Frage nach der rechten Vergangenheit des Verfassungsschutzes steht dabei ebenso im Raum. Die Dienste hatten in der Vergangenheit höhere Beamte mit NS-Vergangenheit in ihren Reihen  – der Fall in Kassel zeigt, daß heute noch Rechtsradikale für den Verfassungsschutz arbeiten. Bislang ist eine umfassende Aufklärung über die Verstrickungen in rechtsradikale Strukturen nicht zu erkennen. Dafür fehlen staatliche Institutionen, welche die Geheimdienste effektiv kontrollieren. Der Verfassungsschutz zählt zu den Verdächtigen, doch in diese Richtung wird nicht ermittelt.

Auch finden sich mit dem Brand in Ludwigshafen und Völklingen zwei weiteren Verdachtsmomente, in den ein rechter Hintergrund vorschnell ausgeschlossen wurde. Ebenso wurde eine ganze Reihe von Taten nicht in einen rechten Hintergrund gesehen, wie bei der Ermordung von drei Polizisten in Dortmund. Zu klären gilt also auch, aus welchen strukturellen Gründen rechte Gewalt immer wieder ignoriert wird.

Der Skandal bietet bei aller Empörung eine einmalige Chance: So besteht die Möglichkeit ein terroristisches Netzwerk zu zerschlagen. Die Bevölkerung kann sich der Gefahren von Ausländerhass und Antisemitismus bewusst werden, denen in den vergangenen 20 Jahren nach Lage der Dinge bis zu 1509 Menschen zum Opfer fielen. Und nicht zuletzt kann dem Treiben der Dienste Einhalt geboten werden, welche eine beinahe sprichwörtliche Tendenz zur Verselbstständigung haben. An einem unbedingten Willen zur Aufklärung durch eine Ermittlung in alle Richtungen sind aber berechtigte Zweifel anzumelden.


Anmerkung: Die zahlreichen Verbindungen zur NPD, die bei vielen Beiteiligten sichtbar wurden, sind nicht Gegenstand dieses Beitrages.


Weitere inhaltliche Ergänzungen zum Beitrag »Tatort Netzwerk« finden sich in den Thread »NSU Blog«. Sie waren zuvor als Kommentare dieses Beitrages vorhanden.

  • 1. Leider wurde bisher nicht die Frage nach dem Poststempel, also Uhrzeit, Datum und Reihenfolge des Versands der DVD gestellt. Der Film ging an Parteien (Die Linke), islamische Kulturzentren, linke Treffpunkte, Medien und Agenturen.
  • 2. Böhnhardt hiess »Holger Gerlach«, Mundlos »Max Florian Burghardt .«, Zschäpe »Lisa Dienelt« und nannten sich Gerri, Max und Liese.
  • 3. Interessant ist auch die Frage, ob das Geld gewaschen wurde, für diesen Fall hatten sie weit weniger Geld zur Verfügung.
  • 4. Eine eindeutige Beweisführung für die Täterschaft der »NSU« ist nicht geführt worden – die Annahme beruht auf Indizien.
  • 5. Aus Sicht einiger Beobachter setzt sich die FAF im Freien Netz Süd fort.
  • 6. vgl. Dwars, Günther: Das braune Herz Deutschlands? Rechtsextremismus in Thrüringen. Der Autor Carsten Hübner bezieht sich auf ein Interview mit Nordbruch in dem Skinzine »Blood&Honour« Heft 9/2000
  • 7. Bemerkenswert an dem Hack des Forums des »Freien Netzes« sind die diskutierten Methoden von Gerlach und Scheffler, die mit »Glaubhafter Abstreitbarkeit« der Existenz einer Struktur und getarnten Angriffen (False Flag) an das Repertoire nachrichtendienstlicher Arbeit erinnern.
  • 8. In Saarbrücken gingen mehrere Bekennerschreiben ein, die aber offenbar nicht von den Tätern kamen.
  • 9. Nach Recherchen der Zeit und des Tagesspiegels starben 137 Menschen durch rechten Terror nach der Wende. Mit den Toten der Ceska-Mordserie und dem Brand in Ludwigshafen wären es 149.

Kommentare

Danke

Danke für den gut geschriebenen überblick. Was bleibt ist die Frage, wieso die Dienste, die in diesem Netzwerk an entscheidenden Stellen ihr Informanten hatten, von der Existenz des NSU nichts gewusst haben wollen.
Bitte weiter recherchieren!

Nachträge verschoben

Da sich die Nachträge zum Beitrag »Tatort Netzwerk« ein wenig ausgewachsen haben, wurden sie in den Thread »NSU Blog« verschoben.

Der Verfassungsschutz – “angeklagt”!

Je mehr Fakten auftauchen, desto verdächtiger macht sich der Deutsche Inlandsgeheimdienst, der Verfassungsschutz: Es wird immer nur soviel zugegeben, wie bereits bekannt geworden ist, Sachverhalte werden falsch dargestellt, höchst-relevante Informationen nicht an die Polizei weitergeben und sogar des Mordes verdächtigte Mitarbeiter mit politischer Rückendeckung abgeschirmt. Die Zerstörung der NSU-Akten reiht sich nahtlos ein. Höchst fraglich, wie diese Behörde ihre eigenen Verfehlungen aufklären soll, wie Politiker und Medien glauben. http://friedensblick.de/1432/der-verfassungsschutz-angeklagt/