Magazin Beitrag

Ein autoritäres Europa?

Der schleichende Wandel der westlichen Demokratien

Vor gut einer Woche ist in Spanien etwas geschehen, das – vorsichtig ausgedrückt – stutzig macht. Ein Streik der spanischen Fluglotsen wurde mit Hilfe des spanischen Militärs aufgelöst. Die Regierung, die dies angeordnet hat, ist eine sozialistische, die PSOE (Partido Socialista Obrero Espanol) unter dem Ministerpräsidenten José Luis Zapatero.

Man könnte sich vor diesem Hintergrund mitunter Fragen, wieso ausgerechnet eine sozialistische Regierung gegen einen – wenn auch durchaus privilegierten – Arbeiterstreik so rabiat vorgeht? Die Militärpolizei stürmte eine Versammlung in der Nähe des zentralen Flughafens Barajas und zwang die dort versammelten Fluglotsen, an die Arbeit zurückzukehren.

Die Armee darf Fluglotsen also gewaltsam aus ihren Wohnungen holen, sie in die Kontrollzentren bringen und zwingen, „unter militärischer Aufsicht“ zu arbeiten. Die Regierung will Befehlsverweigerung gegenüber dem Militär als Verbrechen ahnden, das mit sechs Monaten bis zu fünf Jahren Gefängnis geahndet wird.

Selbst die spanische Tageszeitung El País kommentierte das Vorgehen mit scharfer Kritik: “Das Vorgehen der Regierung ist in Zeiten demokratischer Herrschaftsform ohne Beispiel.“ Im Klartext heißt das: Eine Regierung, die das Wirtschaftsleben derart militarisiert und auf dem Streikrecht herumtrampelt, ist kurz davor, in eine offene Diktatur abzugleiten. Die massiven Lohn- und Sozialkürzungen in Spanien und in anderen europäischen Ländern wegen der Wirtschaftskrise sind mit demokratischen Verhältnissen nicht länger kompatibel.

Denn dieser Vorfall im krisengebeutelten Spanien ist nur ein Indiz von mehreren, die einen bedenklichen Trend in Europa verdeutlichen. Regierungen reagieren in der westlichen Hemisphäre zunehmend agressiver und repressiver auf unliebsame Symptome von Protest, zivilen Widerstand oder anderen Formen der demokratischen Kontrolle und Auseinandersetzung.

Völlig irrelevant ist es dabei, ob nun eine sozialdemokratisch-sozialistische, liberale oder konservative Regierung an der Macht ist. Seit der Politik des dritten Weges und dem Aufkommen des neoliberalen Entwicklungspfades als Paradigma in Europa, ist eine zunehmende Angleichung, ja Banalisierung der Parteienlandschaft im parlamentarischen System zu konstatieren. Das Dogma der von „Sachzwängen“ geleiteten Governance der ideologischen Obdachlosigkeit impliziert die Krise des Politischen als auch die der repräsentativen Demokratie, welche im ökonomisch determinierten, europäischen Einigungsprozess an ihre Grenzen stößt und untergraben wird.

In England setzt die konservativ-liberale Regierung unter Cameron den europäischen – in diesem Falle dem Finanzkapital geschuldeten – Trend, vor allem die sozial Schwachen und Arbeitslosen den bürokratischen Gewaltapparat des Staates mit aller Härte spüren zu lassen, die Krone auf. Besonders in ihren repressiven sozialpolitischen Maßnahmen gehen die europäischen Regierungen in der Tat bis an die Grenze der Verfassungsfeindlichkeit. Spätestens bei Duncan Smiths Plänen, Arbeitslose zu Zwangsarbeit zu verpflichten, dürfte diese Grenze überschritten werden.

Diese autoritären Tendenzen sind derweil auch auf anderen Ebenen sichtbar: In Frankreich gibt es dramatische Einschränkungen der Pressefreiheit, seit dem Journalisten mehrere Skandale um Nicolas Sarkozy aufgedeckt haben (wie das Entgegennehmen von illegalen Parteispenden). Polizei und Geheimdienst werden gegen Journalisten instrumentalisiert, das Bespitzeln von Journalisten ist keine Seltenheit mehr. Die wichtigsten Posten in den Medien sind von Freunden Sarkozys besetzt. Ein Reporter von Canal plus, der über die Demonstrationen gegen Sarkozys Rentenreform berichten wollte, wurde von Polizisten trotz deutlicher Hinweise ob seiner journalistischen Tätigkeit niedergeknüppelt. Selbst die befangene Organisation der Reporter ohne Grenzen hat Frankreich auf dem Index der Pressefreiheit um 10 Plätze herabgestuft.

Wenn man schon vom Kampf gegen Presse- und Informationsfreiheit spricht, dann führt kein Weg an dem Thema vorbei, dass ohnehin allgegenwärtig in den Schlagzeilen ist: Wikileaks. Auch hier wird man Zeuge von Versuchen des Staates – in diesem Fall insbesondere dem US-amerikanischen – Julian Assange und Wikileaks mit juristisch fragwürdigen Methoden zu bekämpfen. Die Praxis dieser unlauteren Methoden, wie auch die Versuche Assange zu kriminalisieren, stellen grundlegende demokratische Rechte in Frage, ja höhlen den Rechtsstaat aus.

Überall in Europa wird somit auch vor den Kulissen immer offensichtlicher, dass die Krise des kapitalistischen Systems auch mit einer Krise der Demokratie einhergeht. Doch lässt sich vor diesem Hintergrund bereits von einer autoritativen Entwicklung Europas sprechen? Was zeichnet einen autoritären Staat überhaupt aus?

In einem – zumindest idealtypisch – autoritären Staatswesen besteht eine horizontale Gewaltenteilung oberflächlich betrachtet allerhöchstens formal. Vergleicht man Industrie- und Entwicklungsländer, kann bei den Letztgenannten ein höheres Maß an Personalisierung des Politischen festgestellt werden. Doch genau diese zunehmende Personalisierung ist längst auch in den westlichen Industrieländern im vollen Gange – wie die Beispiele Thatcher, Schröder, Putin oder Berlusconi illustrieren. Ein Symptom der Postdemokratisierung unserer Gesellschaften ist ebenfalls die schleichende Erodierung oder Korrumpierung der institutionellen Gewaltenteilung. Das zum Beispiel die Medien ihrer Rolle als vierte Gewalt nur noch ungenügend gerecht werden, lässt sich durch weit mehr Beispiele als die oben genannten belegen. Zudem gewinnen Lobbygruppen immer größeren institutionellen Einfluss.

Ein weiteres idealtypisches Element im Verhältnis von Machthabern und Machtunterworfenen im autoritären Staat ist die Gewalt „von oben“. Staatliche und parastaatliche Repressionsorgane dienen dazu, bei Bedarf Gewalt auszuüben, um Kritik und jegliche Form der Opposition zu unterdrücken. Die politische Partizipation wird von den Machthabern entweder unterbunden oder gesteuert. Ganz soweit ist es in Westeuropa zwar bisher noch nicht gekommen, doch lassen sich diesbezüglich durchaus Tendenzen beobachten. Deutlich offenbart sich eine fortschreitende Entmachtung der Bürger auf der Input-Seite des politischen Prozesses und eine Beschränkung seiner politischen Rolle auf die Bewertung des politischen Outputs, also der politischen Umsetzung und Ergebnisse.

Vor dem Hintergrund der Demonstrationen gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21, im Zuge derer die Polizei teils mit übertriebener Härte gegen die Demonstranten vorging, äußerten sich mehrere deutsche Spitzenpolitiker begeistert über autoritäre Regime wie China und Diktaturen wie Saudi Arabien und Katar, die sie als Vorbild in der schnellen und reibungslosen Durchsetzung wirtschaftlicher Großprojekte lobpreisten. Die Demokratie wird dabei zunehmend als Standortnachteil ausgemacht. Auch Teile der Wirtschaft äußern Unbehagen an der Demokratie, die aus der Langsamkeit der Verfahren, der Schwerfälligkeit der Entscheidungsprozesse, der Mängel in der Auswahl des politischen Personals erwächst.

Diese Begeisterung für eine starke, weitgehend von demokratischen Entscheidungsprozessen losgelöste Führung kommt aber nicht von ungefähr. Der skizzierte Wandel der Postdemokratisierung geht mit einer Veränderung der Funktion von politischer Führung einher. Neben Lobbygruppen und den Massenmedien gewinnen starke Führungspersönlichkeiten an Einfluss, wenn sie das Vertrauen der Bürger für sich gewinnen, divergierende Interessen bündeln und richtungweisende Entscheidungen fällen können – deren Qualität die Wähler lediglich im Nachhinein bewerten sollen.

Diese politische Führung, obwohl sie im institutionellen Kontext einer Demokratie erfolgt, kann aber nicht für sich reklamieren, demokratische Führung im strikten Sinne des Wortes zu sein, da sie weitgehend losgelöst von den Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger operiert.

Wenn man sich desweiteren – neben der steigenden Gewaltbereitschaft der Exekutive – die zunehmende Manipulation und Gleichschaltung der deutschen und europäischen Berichterstattung bzw. Medienlandschaft, die Debatten um den Einsatz der Bundeswehr im Innern und die ständige Dramatisierung und Instrumentalisierung des Bedrohungspotenzials durch den islamischen Terrorismus vergegenwärtigt, lassen sich durchaus mehrere Tendenzen, die auf eine autoritäre Entwicklung schließen, beobachten.

Diese Beobachtungen werden anhand der verstärkten staatliche Sicherheits- und Geheimhaltungspolitik in Europa bestätigt. Während der Staat sich zunehmend aus gesellschaftlichen Aufgabenbereichen zurückzieht (Bereitstellung von Infrastruktur, öffentlicher Dienst, Gesundheitswesen etc.), weitet er seine Überwachungstätigkeit aus. Der Politikwissenschaftler Colin Crouch konstantiert, dass der Wohlfahrtsstaat bis auf ein Minimum abgebaut wird, und es längst nicht mehr darum gehe, staatsbürgerliche Teilhaberechte für alle sicherzustellen:

Die Gewerkschaften sind marginalisiert; das alte Modell des Nachtwächterstaates, in dem dieser nur mehr die Rolle des Polizisten und Kerkermeisters einnimmt, kommt zu neuen Ehren (…).

Denn mit der in Kauf genommenen Zuspitzung gesellschaftlicher Widersprüche steigen Aufwand und Kosten zur Sicherung der Einkommens- und Eigentumsverhältnisse. Die globalisierten wirtschaftlichen Eliten haben kein Interesse daran, dass sich die sozialen Kräfte, denen es um den Abbau ökonomischer und politischer Ungleichheit innerhalb der fragmentierten restlichen Bevölkerung geht, in irgendeiner Weise durchsetzen können. Die sozialen Kräfte – und das wird in der Schuldenkrise allzu deutlich – verlieren gegenüber jenen an Einfluss, die zu der hierarchischen Ordnung zurückkehren wollen, die wir aus vordemokratischen Zeiten kennen (Colin Crouch).

So schrieb der Schriftsteller Umberto Eco anlässlich einer Protestaktion gegen die Regierung von Silvio Berlusconi am 8. Juli 2008 auf der Piazza Navona in Rom einen offenen Brief an alle Teilnehmenden, der in der größten Zeitung Italiens, der La Repubblica , auch abgedruckt wurde, und in dem es heißt:

Wir können hinschauen, wo wir wollen, in allen westlichen Ländern, ob in Amerika oder Europa, gewinnen die Faschisten immer mehr Macht (und die Linken helfen ihnen dabei) und verwandeln die Länder in Überwachungs- und Polizeistaaten. (…) Der Faschismus von heute hat äußerlich nichts mit dem aus der Vergangenheit zu tun. Keine Uniformen, Stechschritt und erhobener Gruß. Nein, er ist modern, raffiniert verpackt und wird mit PR verkauft … aber der Geist, der dahinter steckt, die totale Kontrolle und Ausbeutung, die Zensur, die Mediengleichschaltung, die Lügen, die Unterdrückung und die Angriffskriege … die Resultate … sind dieselben. Die meisten Menschen sehen das nicht und sind durch die Propaganda völlig geblendet.


Dieser Gastbeitrag erschien zuerst auf der Seite le bohémien.

Kommentare

Wie würde unsere Regierung aus CDU+FDP reagieren auf Proteste

der Bevölkerung die aus Billiglöhnen ,Leiharbeit,Hartz4,Aufstocker,Rentner auf die Strassen gehen würden und 4-8 Wochen lang protestieren würden? Würden diese Parteien nicht ihre Staatsgewalt einsetzen mit allen Mitteln? Für Tunesien + Ägypten und die anderen Staaten hat man noch Verständnis. Kein Verständnis hat man für die Mehrheit im Land mit Sklavenlohn. Verständnis kann nur aufbringen für Unternehmen.