Magazin Beitrag

Demokratie. Ein Abgesang?

Sammelrezension zu einem aktuellen Thema

Im Moment ihrer Bedrohung wird die Demokratie zum Gegenstand des politischen Gesprächs. Ob man sie so bestärkt oder ihr unversehens den letzten Stoß versetzt, ist nicht immer ganz klar.

Zur Alltagsweisheit ist geworden, dass es für demokratische Aushandlungsprozesse wenig Spielraum gibt, wo während der vergangenen Jahrzehnte ein vormals öffentlicher Sektor privatisiert oder – formal in öffentlicher Hand – dem Verwertungsimperativ rigoroser unterworfen wurde. Das Kapital hat ein deutliches Gesetz und kennt nur eine Verantwortlichkeit: Profit und mehr Profit. Wozu noch diskutieren? So regiert der Reichtum unumwunden. Die Begrenzung der Macht des Reichtums aber war es, die Unterbrechung gerade der Verbindung, die von der Schuld in die Sklaverei führte, die mit den Reformen Solons um 594 v.u.Z. am Anfang der Demokratie stand. Und die der Politik den Spielraum erst eröffnete.

TINAs alte Kleider

In kritischer Absicht ist die neoliberale Situation einer wieder erstarkten Verbindung von Staat und Kapital als „postdemokratisch“ beschrieben worden. Der „Postdemokratie“ − Jacques Rancière prägte den Begriff vor 20 Jahren[1] −, die den Schein demokratischer Legitimität mehr schlecht als recht noch wahrte, inhärierte bereits eine autoritäre Tendenz. Wenn es, wie derzeit in der Finanzkrise, bei der Durchsetzung des Wertgesetzes hart auf hart kommt, tritt diese nur besonders deutlich hervor. Sie äußert sich im Zeitdruck, unter den weitreichende fiskalische Entscheidungen gesetzt werden oder in der Installation technokratischer Regierungen, die, degradiert zur Exekutive der Troika und machtvollkommen zugleich, Spardiktate gegen die eigene Bevölkerung durchsetzen. Sie zeigt sich im Hang zum Durchregieren, in der Demokratie als Standortnachteil und ihrer bonapartistischen Interpretation, deren aktuelles Emporkommen Thomas Wagner, dem italienischen Philosophen Dominico Losurdo folgend, letztes Jahr für Deutschland beschrieben hat.[2] Wo es vermeintlich doch keine Alternative gibt, erscheint der Citoyen vor allem als potenzieller Querulant, dem das Demonstrationsrecht, wie noch im Mai in Frankfurt, auch schon mal entzogen wird. Die Demokratie ist im Gespräch. Über sie wird geredet in Zeitungen, Blogs und Büchern. Sie wird problematisch im Augenblick des drohenden Verschwindens noch ihrer „konsensuellen“, ihrer „postdemokratischen“ Variante im offenen Autoritarismus.

Umstrittene Demokratie

In dieser Situation erscheint nun in deutscher Übersetzung der kleine Sammelband Demokratie? Eine Debatte, der sich grundsätzlich mit der Demokratie befassen will.[3] Einig sind sich die AutorInnen des lange erwarteten Büchleins lediglich darin, dass die Demokratie ein vieldeutiger und umstrittener, ein politischer Begriff sei, beansprucht von den verschiedensten Seiten, für die gegensätzlichsten Anliegen. Immer wieder wird bemerkt, dass es gerade auch Antidemokraten sind, die sich einer demokratischen Rhetorik bedienen. Ausgehend von einer Äußerung Louis-Auguste Blanquis, der das Wort „Demokratie“ schon 1852 einen „Gummibegriff“ nannte, beschreibt Kristin Ross seinen tiefgehenden Bedeutungswandel: Vom revolutionären Erbe 1789, über seine bonapartistische Ingebrauchnahme, markiert durch das Zweite Kaiserreich und die besagte Bemerkung Blanquis, bis hin zu seiner offensiven Aneignung durch die Reaktion nach der „Blutwoche“ 1871, am Ende der  Pariser Kommune. Einig sind sich die AutorInnen – bis hin zu Alain Badiou – aber auch darin, dass der Begriff, dessen Verwendung gleichwohl strittig bleibt, nicht aufgegeben werden könne.

Herrschaft des demokratischen Menschen

Zwar denunziert Badiou die Demokratie zunächst im, wie er meint, geläufigen Verständnis, indem er ihre Gleichheit etwas eilig mit der Äquivalenzlogik des Warenflusses identifiziert. Denn der »demokratische Mensch« ist Badiou − mit Platon und Lacan – jener »Subjekt-Typus«, dessen endlose Jagd nach den kleinen Genüssen die »Maschinerie« am Laufen hält. Jedoch nur um schließlich zu proklamieren, dass wir heute, wollten wir „echte Demokraten“ sein, in noch ungekannter Weise „wieder Kommunisten werden“ müssten. Denn die Demokratie des »demokratischen Menschen« sei nur eine Verfallsform der Demokratie und stehe im Zeichen eines »Parlamentarismus des Kapitals«.

Dass Badiou die demokratische Subjektivität derart als eine konsumistische solche und diverse Minderheiten, wie auch die rebellierenden Jugendlichen der Vorstädte, als ihre idealtypischen Verkörperungen beschreibt – „Klamotten, Schuhe von Nike, dazu mein Hasch“ –, lässt ihn allerdings selbst in die Nähe eines „neuen antidemokratischen Diskurses“ rücken, dessen Herkommen Rancière in seinem bereits letztes Jahr auf Deutsch erschienenen Buch Der Hass der Demokratie beschrieben hat.[4]

Der so analysierte Diskurs will, um das geregelte Funktionieren der Demokratie vor ihrem Exzess zu bewahren, ein Zuviel demokratischer Vitalität in privatem Glücksstreben verebben lassen. Nur um sich auch in diesem Bereich mit Forderungen konfrontiert zu sehen, die einzuhegen, ihm nicht leichter fällt. Zum vorzüglichen Objekt seines Hasses werden daher ausgerechnet all jene, „deren Konsumfähigkeit am eingeschränktesten ist.“ Eben weil sie vom Genuss des gesellschaftlich erzeugten Reichtums weitgehend ausgeschlossen sind, müssen diese Klassen als bedrohlich gelten. Stichwort „spätrömische Dekadenz“.

Gegen den Beteiligungswillen der Leute empfiehlt der neu-alte Antidemokratismus die Absorption im Privaten. Badiou klagt sie an. Doch Kraft dieser gemeinsamen Verschiebung, die im verhinderten respektive plündernden Konsumenten den demokratischen Individualismus denunziert, konnte Rancières ironische Rede von der „monströsen Herrschaft der Jugend“ und dem „demokratischen Menschen“ als einem „vor Gleichheit trunkenen Verbraucher“ auch als indirekter Angriff auf Badiou verstanden werden.

In seiner Zurückweisung des „demokratischen Materialismus“ ist Badiou dem ordinären Antidemokratismus gefährlich nah. Und auch sein positives Verständnis demokratischer Politik, die er als „Führung“ des „tatfreudig sich zusammenballenden Volk[es]“ entwirft, lässt einige Fragen offen. Angesichts von Badious Rechtfertigung des Personenkults könnte es sich bei diesem vermeintlich neuartigen Kommunismus sehr wohl um Altbekanntes handeln.

Demokratischer Universalismus

Für Rancière, der so verhalten mit der Vokabel des Kommunismus liebäugelt, wie Badiou mit jener der Demokratie, ist letztere weiterhin am geeignetsten, um die Aktualisierung einer grundlegenden Gleichheit zu bezeichnen. So grundlegend, dass auch gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse immer schon auf ihr fußen, gegen die sie daher auch stets gewendet werden kann. „Ließe sich ein besseres Wort anstelle von Demokratie finden“, sagt Rancière, „hätte ich nichts dagegen, nur welches sollte das sein?“ Insofern die Demokratie eine grundlegende Gleichheit zur Geltung bringt, ist sie wesentlich universalistisch.

Wenn Wendy Brown in ihrem Beitrag meint, der Demokratie wohne „schon immer ein offener Antiuniversalismus inne“, weil sie sich nur über „eine konstitutive Außenseite (…) definiert“, so geht sie, bei aller nicht nur historischen Analysekraft dieses Standardhandgriffs postkolonialer Theorie, in letzter Instanz ganz einfach den Effekten einer topologischen Metapher auf den Leim.

Brown misst die Demokratie als „Regierungsform“ an ihrem unerreichten Anspruch und will sie erneut als „eine Politik des Widerstands“ verstanden wissen. Derart fügt sie sich gut ins Tableau linker Gegenwartsphilosophie. Das ist ebenso aufrührerisch wie bescheiden.

Querulanten, Störer, Demokraten

Das Thema eines Überschusses der konstituierenden Macht des Volkes (peuple) gegenüber der konstituierten Macht − oder des Demos als jeder Zählung äußerlich, das auch dem Demokratiebegriff Rancières unterliegt −, zieht sich durch den gesamten Band. Das Beharren auf diesem ständigen Exzess der Konstitution selbst hat einen dynamisierenden Effekt und wertet den demokratischen Konflikt unmittelbar auf. Es weiß ihn als ebenso unhintergehbar, wie unvereinbar mit der konsensuellen Verwaltung des Lebens oder der Demokratie verstanden als Staats- oder Regierungsform. Politik, als Sphäre der dissensuellen Bearbeitung gesellschaftlicher Konflikte, wird es immer geben. Das „Volk“ als homogenes Ganzes und handelnde Einheit gibt es höchstens in der kruden Vorstellungswelt des konservativen Staatsrechts und seiner zeitgenössischen Emanationen.

Mittelbar haftet dieser Argumentation jedoch auch die Gefahr einer Trivialisierung des politischen Konflikts an. Gerade indem sie ihn verallgemeinert, zeigt sie sich offen für Ungenauigkeiten, gar für Spielarten eines ironischen Konservatismus und der Apologie staatlicher Herrschaft angesichts permanenter demokratischer Destabilisierungen. Zwei Beispiele zur Illustration.

Ersten ist vor einigen Monaten Miguel Abensours Demokratie gegen den Staat auf deutsch erschienen.[5] Auch hier wird die Demokratie – der Titel zeigt es an – nicht als Staatsform, sondern dieser entgegenstehend gefasst. Ausgehend von der Figur der „wahren Demokratie“ spürt Abensour dem eigentlich politischen, dem „machiavellischen Moment“ im Werk des jungen Marx nach. Ab 1843 habe dieser den Staat nicht mehr als organisches Ganzes und organisierende Form gedacht. Ebenso den Demos nicht länger als ein Moment der Verfassung und dieser untergeordnet, sondern die Verfassung lediglich als ein Moment im Leben des „ganzen Demos“. Stets reduzierbar auf dessen Selbstkonstitution trete sie ihm nicht als eine fremde, als entfremdete Macht gegenüber. Doch vor dem Hintergrund einer an sich richtigen, dekonstruktivistischen These – des Demos als nicht-identisch mit sich selbst – weiß Abensour die Staatsform letztlich nicht als historisches Instrument der Klassenherrschaft aufzufassen, sondern nur neutral. Derart rutscht sie ihm, gleichsam rückwärts, mit Organisation und Konstitution überhaupt in Eins und wird ontologisch verewigt. Die Marxsche Rede vom Ende des Staates angesichts der „wahren Demokratie“ wird ihm so notwendig obskur – oder zur reinen Bewegung eines Endens ohne Ende. Und so scheint alles schon gesagt im Simmelschen Topos einer „Tragödie der Kultur“, letztere nur in Manifestationen existieren kann, die ihr sogleich fremd und starr gegenüberstehn. Weil Abensour die spezifische Form Staat in ihrer konstitutiven Verbindung mit Herrschaft nur denkt, indem er beide – Staat und Herrschaft – als ewig setzt, ist seine Konzeption der Demokratie selbst tragisch. Er nennt sie passend „rebellierend“. Dass die Simmelsche „Tragödie der Kultur“ auch eine Rekuperation des Marxschen Themas des Warenfetischismus war, in dem die gesellschaftlichen Verhältnisse den Menschen als Verhältnisse zwischen Dingen unverfügbar gegenübertreten, gerät hier völlig aus dem Blick.

Zweitens entdeckt Jean-Luc Nancy in seinem Beitrag zum eben erschienenen Band − aus ähnlichen Gründen wie Abensour − seinen „Sinn für die Notwendigkeit des Staates“. Weil es einen „Trieb zu herrschen“ gebe – eine supplementäre und sehr zweifelhafte Voraussetzung, die auch Abensour, mit Lefort und Machiavelli, zu machen sich genötigt sieht – könne die Demokratie nur den Charakter einer „fortlaufenden Störung“ des Staates haben, nicht aber hoffen, denselben zu ersetzen. Letzteres sei eigentlich „eine der großen Illusionen der Moderne“ und die Demokratie also nicht mehr als − Störung und Exzess − der Pickel am Arsch des Staates. Wolle sie mehr sein, so die Implikation, so nur als negativer, als totalitärer Eifer. Das ganze Problem ist die Verwechselung des Staates mit Formen der Konstitution überhaupt. Eine Verwechslung, und sei es ungewollt, deren apologetischer Charakter nicht verkannt werden sollte.

Der Unterschied zum klassischen Konservatismus ist so grundsätzlich wie subtil. Die negative Anthropologie bleibt erhalten. Nur wird die Herrschsucht nicht durch den Staat gebändigt – der so indirekt notwendig sei –, sondern bringt ihn unmittelbar hervor. Eine feste Größe ist er hier wie dort. Und da Nancy nicht zu bemerken scheint, dass durch die vielgeliebte „Begründungslosigkeit“ und umfassende Delegitimierung hindurch, die Vernunft als Forderung einer freien Gleichheit insistiert, ist sein Diskurs zum autoritären Konservatismus hin zumindest offen.

Regierung oder Selbstorganisation des Demos

Diese links-heideggerianische Perspektive, die in dem Büchlein auch durch den meandernden Beitrag Daniel Ben Saїds vertreten wird, wird ergänzt durch die neo-leninistische. Markiert wird sie durch Slavoj Žižeks im vertrauten Copy-and-Paste-Verfahren erstellten Text. Zusammen bilden beide ein artikuliertes, zur Einheit verschränktes Ganzes: So wie Nancy und Abensour auch den Staat und Ben Saїd die „Machtübernahme“ affirmieren, weiß Žižek, dass es auf den Druck ankommt, den die „Selbstorganisation des Volkes“ auf jede denkbare „Regierung“ ausübt. Das Paradigma der Regierung selbst bleibt unhinterfragt.

In einer nur vier Seiten umfassenden Notiz am Beginn des Bandes – die AutorInnen treten darin in alphabetischer Reihenfolge auf – kennzeichnet Giorgio Agamben indes gerade die Regierung als „das zentrale Rätsel der Politik“. Jede Diskussion über Demokratie, sagt er, die sich der ihr eigenen „Amphibologie“ von Verfassung und Regierung nicht stellt, drohe „zum Geschwätz zu verkommen“. Gemeint ist die Verschränkung einer legitimierenden und einer exekutiven Ebene zu einer „doppelköpfigen gouvernementalen Maschine“, deren Effektivität gerade in der verschleierten Vermittlungslosigkeit dieser beiden Ebenen bestehe. „Regieren“, schreibt Agamben in seinem Opus magnum Herrschaft und Herrlichkeit, auf das er verweist, „heißt die Entfaltung besonderer Nebenwirkungen einer allgemeinen ‚Ökonomie‘ zulassen“. Insofern sei „die ökonomisch-gouvernementale Ausrichtung der zeitgenössichen Demokratien“ keine bedauerliche Deformation, sondern diesen wesentlich. Im eher theoretischen Problem der Vermittlungslosigkeit von Rechtfertigung und Praxis erkennt er das leere Zentrum jeder Macht, die nur im Paradigma der Ökonomie − verstanden als Verwaltung − existiere. Zweifelhaft ist allerdings, ob sich über diese Leere entscheidendes sagen lässt, ohne auch die abwesende Ursache der Ökonomie zu erwägen, den unbewegten Beweger, das gesellschaftliche Verhältnis des Kapitals.

Widerstand und Selbstorganisation

Wo die Verfahren demokratischer Aushandlung im Zuge einer autoritären Krisenlösung derzeit verstärkt durch marktkonforme Expertokratien subvertiert werden, sucht sich doch ein demokratisches Streben auch neue Wege der Einflussnahme. Die Platzbesetzungen des letzten Jahres legen davon ein reges Zeugnis ab. Ein Automatismus ist dies jedoch nicht. Eher noch liegt die Ausweitung autoritärer Tendenzen in der Konsequenz der Situation. Diese Gefahr zu unterschätzen, wäre naiv. In den neuen faschistischen Bewegungen wetterleuchtet sie nur am grellsten.

An den Platzbesetzungen − genauer: an ihrem Verschwinden −  zeigt sich zudem die Schwierigkeit, dass „Widerstand“ allein wenig nachhaltig ist. Ein positives Projekt in eigenem Recht, eine alternative Organisierung, ersetzt er nicht. Ihrer aber bedarf umgekehrt auch effektiver Widerstand schon bald als Basis und Ausblick zugleich.

 

 

 

Dieser Artikel ist in einer gekürzten Version zuerst am 15. September 2012 im Neuen Deutschland erschienen.


[1] Jacques Rancière, Demokratie und Postdemokratie, in: Alain Badiou, Jacques Rancière, Rado Riha, Jelica Šumič, Politik der Wahrheit, Wien 1997, S. 94-122.

[2] Thomas Wagner, Demokratie als Mogelpackung. Oder: Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus, Köln 2011.

[3] Giorgio Agamben, Alain Badiou, Daniel Bensaїd, Wendy Brown, Jean-Luc Nancy, Jacques Rancière, Kristin Ross, Slavoj Žižek, Demokratie? Eine Debatte, Berlin 2012.

[4] Jacques Rancière, Der Hass der Demokratie, Berlin 2011. (103 Seiten)

[5] Miguel Abensour, Demokratie gegen den Staat. Marx und das machiavellische Moment, Berlin 2012.