Presseschau Beitrag

Eine Verfassungsänderung zwischen Hoffen und Bangen

Die Verfassungsreform in der Türkei und die Rolle der Regierungspartei AKP
Verteilung der Wahlergebnisse nach Provinzen: Grün - "Zustimmung" / Rot - "Ablehnung" <br/>Grafik von AxG
Verteilung der Wahlergebnisse nach Provinzen: Grün - "Zustimmung" / Rot - "Ablehnung" Grafik von AxG

Die erfolgreiche Volksabstimmung, bei der 58% der Wähler einer Verfassungsreform in der Türkei zustimmten, zeigt vor allem, wie tief gespalten das Land ist. Denn weniger die konkreten Inhalte der Verfassungsänderung standen zur Wahl als vielmehr die regierende AKP und insbesondere die Person des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Nur vor diesem Hintergrund lassen sich das Referendum interpretieren und die unterschiedlichen Bewertungen der Inhalte nachvollziehen.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der größte Teil der Änderungen Anpassungen an die veränderten Lebensrealitäten in der Türkei sind und von einem Großteil der Bevölkerung getragen werden. So wird u.a. der Schutz von Kindern, Menschen mit Behinderungen und Frauen in der Verfassung explizit hervorgehoben. Ebenso werden die Rechte von Beschäftigten im öffentlichen Dienst verbessert. Diese Stärkung von Rechtspositionen der genannten Gruppen lässt sich als der allgemein akzeptierteste Abschnitt von insgesamt drei Teilen der geplanten Reform beschreiben. Diese drei Teile enthalten 26 verschiedene Punkte, wovon die wenigsten kontrovers diskutiert werden. Stark umstritten sind dagegen die Änderungen im Bezug auf das Verfassungsgericht.

Hier wird eine Änderung des Wahlverfahrens vorgenommen, welches bislang kompliziert war und vorwiegend durch Vertreter der Judikative erfolgte. Zukünftig werden die Verfassungsrichter durch das Parlament mit einer einfachen Mehrheit bestimmt. Hinzu kommt eine Erhöhung der Anzahl der Verfassungsrichter von bislang 11 auf 19. Die Jungle World weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass derzeit zwei Richter der AKP nahestehen. Durch die Vergrößerung der Richterschaft würde dieser Nachteil beseitigt. Kritiker sehen gerade darin den Versuch, sich die Macht über das Verfassungsgericht zu sichern.

Die Bewertung dieses Abschnitts ist somit eng mit der Wahrnehmung der AKP verbunden. Während Kritiker eine schleichende Islamisierung befürchten und gleichzeitig die Durchsetzung einer Präsidialdiktatur am Horizont wähnen, verweisen Unterstützer auf die angestrebten Annährungen an die EU, die Versuche, die Machtstrukturen des Militärs aufzubrechen und die zur Schau gestellten Versuche, die Konflikte im kurdischen Teil zu beruhigen, unabhängig davon, wie ernst gemeint oder erfolgreich diese Initiativen sind.

Entlang dieser Trennungslinie verlief auch die Abstimmung über die Verfassungsreform, daher bietet sich beim Betrachten der Abstimmungsergebnisse ein kurioses Bild von Gewinnern: Neben jubelnden Aktienhändlern versammeln sich religiöse Konservative und vereinzelte linksliberale Intellektuelle. Denn während die Verfassungsänderung gerade von der EU und der ausländischen Wirtschaft begrüßt wird, stimmten in der Türkei die tief konservativen, religiösen Regionen für die Verfassung und die westlich orientierten säkularen Großstädte sagten mehrheitlich “Nein”.  Damit spiegelten sich in der Volksabstimmung die Mehrheitsverhältnisse wieder, die bereits im Februar 2009 bei der Kommunalwahl herrschten.

Durch diese für ausländische Betrachter oftmals paranoid wirkenden Ängste vor einem totalen Umbau des säkularen Staates zu einer islamischen Republik wird konkreten Kritikpunkten an der Verfassungsänderung kaum Beachtung geschenkt. So wird im ersten Teil zwar eine Stärkung der Kinderrechte beschrieben, eine konkrete Gesetzesinitiative, die ein Verbot von Kinderarbeit vorsieht, liegt dagegen nicht vor. Ebenso wird zwar die Möglichkeit zur Aushandlung von Tarifverträgen im öffentlichen Dienst beschrieben, von einem Streikrecht ist dagegen nichts zu lesen. Mit der weiterhin gültigen 10-Prozent-Hürde bei den Parlamentswahlen ist die parlamentarische Repräsentation von Minderheiten weiterhin kaum möglich. Trotz der offensichtlichen Schwächen und auch vielen Vorbehalten, die der AKP im speziellen entgegegebracht werden, entschlossen sich vereinzelte linksliberale Intellektuelle dazu, für das “Ja” in der Volksabstimmung zu werben, u. a. Orhan Pamuk.

Begründet wurde dies mit dem dritten wichtigen Punkt in der Verfassungsänderung: der Einschränkung der militärischen Gerichtsbarkeit. Demnach ist es dieser zukünftig untersagt, Zivilisten anzuklagen. Weiter ist mit der Aufhebung der Immunität hochrangiger Militärs eine Hoffnung auf eine Aufarbeitung des Militärputsches von 1980 und seinen Folgen verbunden. Doch auch dieser Punkt wird von vielen Opferinitiativen nicht unkritisch gesehen, da die in der Türkei geltenden Verjährungsregeln von 30 Jahren, mit dem Referendum nicht angetastet werden. Dadurch ist es fraglich, ob eine strafrechtliche Verfolgung der Putschisten, sofern diese noch am Leben sind, überhaupt möglich ist. Denn am Tag des Referendums, dem 12. September, jährte sich der Putsch zum 30. Male.