Magazin Beitrag

Libyen heute und morgen

Eine Analyse der Situation nach Gaddafi
Libyen heute und morgen
Bild von laurenfrohne

Monatelang beherrschte Libyen die internationalen Schlagzeilen: der blutige Konflikt des alten Regimes mit den Rebellen und den westlichen Luftwaffen beschäftigte die Weltöffentlichkeit. Mittlerweile ist es stiller geworden – allerdings nur in der Berichterstattung, denn das Land selbst ist noch keineswegs stabilisiert. Unter anderem rivalisierende Milizen, eine schwache Zentralregierung und die zerstörte Infrastruktur stehen einem wirklichen und nachhaltigen Aufschwung und einer Demokratisierung im Weg. Wie steht es um Libyen zwei Monate nach dem Tod Gaddafis?

Nur ein unbedeutender Zwischenfall?

Als am 11. Dezember eine Fahrzeugkolonne am Flughafen von Tripolis eintrifft, kommt es zu einer wilden Schießerei, zwei Menschen sterben. Was war passiert? Der neue Oberkommandierende der Armee, Generalleutnant Khalifa Belqasim Haftar, wollte den Transport einer größeren Summe frisch gedruckter Geldscheine sicherstellen, die gerade aus dem Ausland eingetroffen war. Dabei gerieten seine Begleiter mit einer Berbermiliz aneinander, die seit dem Sturz Gaddafis den Flughafen sichert und zu diesem Zweck auch eine Reihe von Straßensperren errichtet hatte. Der kleine Zwischenfall wirft aber ein bezeichnendes Licht auf die Lage im Land, und das in mehrfacher Hinsicht.

Die spontan gebildeten Milizen hatten einen wesentlichen Anteil am Sieg im Bürgerkrieg, ihre Zahl wird auf 100 bis 300 geschätzt. Nach dem Triumph gingen sie jedoch nicht nach Hause, noch immer sind etwa 125.000 Milizionäre organisiert. Hinzu kommen zahlreiche weitere Waffen, fast jeder erwachsene Mann besitzt eine. Das ist ohne Zweifel eine brisante Situation, denn die Kämpfer fühlen sich verraten, um ihren Anteil am Sieg betrogen. Zuhause können sie kaum auf Arbeit und Perspektiven hoffen, und so versuchen sie durch gewaltsamen Druck ihre Interessen durchzusetzen. Praktisch täglich kommt es zu Feuergefechten, mehr oder weniger willkürlich errichtete Straßensperren beherrschen die Städte. Viele der Milizen sind sich nicht gerade wohlgesinnt, unzählige Rivalitäten führen zu immer neuen blutigen Auseinandersetzungen untereinander.

Wie der Vorfall am Flughafen zeigt, handelt es sich nicht selten auch um ethnische Konflikte; gerade die Berber fühlen sich von der arabischen Mehrheit ausgegrenzt und, wie schon früher, benachteiligt. Dabei können sie auf ihre erheblichen Verdienste im Bürgerkrieg verweisen, denn ihre Truppen waren es, die im Süden und Westen stark vertreten waren und schließlich maßgeblich den finalen Sturm auf Tripolis durchführten. Obwohl sie zehn Prozent der Bevölkerung stellen, sind sie in die Übergangsregierung nicht eingebunden, die lukrativen und prestigeträchtigen Posten haben andere bekommen. Die vielfältig strukturierte libysche Gesellschaft, in der Stämme eine bedeutende Rolle im Alltag und in der Politik spielen, hat noch keine Antwort auf diese drängenden Probleme gefunden. Es bleibt weiter unklar, wie die einzelnen Gruppen angemessen integriert werden können. Nicht wenige Beobachter befürchten eine dauerhafte Spaltung des Landes oder gar einen neuen Bürgerkrieg.

Doch zurück zum 11. Dezember. Armeechef Haftar ist ein typisches Beispiel für die neuen Eliten, die eigentlich die alten sind. Haftar war bis in die 80er Jahre ein wichtiger Kommandeur Gaddafis, fiel dann aber in Ungnade und floh in die USA. Womöglich baute er in dieser Zeit Kontakte zur CIA auf, auch wenn das nicht gesichert ist. Jedenfalls kam er während des Bürgerkriegs in seine Heimat zurück und rückte schnell in führende Positionen in der Rebellenarmee auf. Mit dieser Karriere steht er nicht allein; fast alle Machtpositionen, inklusive der Übergangsregierung, sind in der Hand alter Kader aus Gaddafis Regime. Das hat natürlich eine gewisse Berechtigung, denn in den langen Jahren der Diktatur konnte sich keine Opposition oder gar Zivilgesellschaft etablieren. Es fehlt also schlicht an kompetenten Köpfen, die nicht in irgendeiner Weise kompromittiert sind. Dennoch ist es erstaunlich, wie umfassend diese Seilschaften die Macht an sich reißen konnten, kaum neue Gesichter gelangten in die ersten Reihen der neuen Führung. Da stellt sich schnell die Frage, ob mit einem solchen Personal eine überzeugende Demokratisierung möglich sein wird. Vor allem die Jugend hat daran erhebliche Zweifel, und so konnte man in den vergangenen Wochen wieder zunehmend Proteste beobachten. Zehntausende demonstrierten gegen den Übergangsrat, insbesondere im Osten des Landes, wo auch der Aufstand gegen Gaddafi begann. Dessen Macht ist natürlich begrenzt, vor allem weil er kaum über eine disziplinierte Armee und Polizei verfügt.

Blick in die Zukunft

Eine wichtige Rolle werden in Zukunft in jedem Fall die Islamisten spielen. Sie verfügen über großen Einfluss auf eine Reihe von Milizen, ohne dass das genaue Ausmaß bekannt ist. Unter anderem stellen sie jedoch den Militärchef von Tripolis – ein zentrales Amt. Genauso wenig gesichert ist ihr Rückhalt in der Bevölkerung. Die Erfahrungen von Tunesien und Ägypten lassen aber vermuten, dass er nicht unerheblich ist. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, wie die neue Verfassung des Landes aussehen soll. Wahrscheinlich ist eine starke Berücksichtigung islamischer Rechtstraditionen wie der Scharia. Freilich ist noch keineswegs ausgemacht, ob diese eher restriktiv oder liberal ausfallen wird. Denn eine allgemein akzeptierte und klare Auslegung des religiös grundierten Rechts gibt es nicht, auch wenn mancher im Westen das glaubt. Ein Hoffnungsschimmer zeigt sich daran, dass langsam eine Zivilgesellschaft entsteht. Unabhängige Medien werden gegründet, eine öffentliche Debatte um die Zukunft des Landes beginnt.

Ein weiterer wichtiger Punkt für den Aufbau einer tragfähigen politischen Ordnung wird auch die Behandlung der Menschenrechtsverletzungen sein. Dabei gerät leider häufig aus dem Blick, dass nicht nur das alte Regime, sondern auch während des Bürgerkriegs von den Aufständischen massive Verbrechen verübt wurden. Wichtig wäre in jedem Fall eine umfassende und lückenlose Aufarbeitung. Möglicherweise käme dafür auch eine Vorgehensweise wie in Südafrika nach dem Ende der Apartheid in Betracht. Dort ging es weniger um die Bestrafung der Täter als vielmehr um Aufklärung. Doch das sollte das libysche Volk selbst entscheiden – eine Überstellung der Verantwortlichen nach Den Haag scheint hier nicht erfolgversprechend. Denn nur die Libyer selbst können am Ende ihre Demokratie, ihren Rechtsstaat schaffen. Alles andere böte den Verurteilten nur die Möglichkeit, sich als Opfer ausländischer Mächte zu gerieren. Und gerade die Intervention des Westens hat den Aufständischen ohnehin genug Schwierigkeiten bereitet. Denn jetzt stehen sie – wohl nicht zu Unrecht – unter dem Verdacht, den fremden Helfern gegenüber in einer Bringschuld zu stehen. Gerade das kann den Islamisten am Ende in die Hände spielen, denn sie gelten eher als unabhängige Kraft als andere. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sie während der Kämpfe bereitwillig Waffen und Ausrüstung von eben diesem Westen in Empfang nahmen.

It´s the economy, stupid!

Die wirtschaftliche Entwicklung wird in besonderem Maße über den weiteren Weg Libyens entscheiden. Und die ist alles andere als gesichert, den enormen Ölreserven zum Trotz. Denn die Vergangenheit zeigte, dass die Einnahmen aus dem Rohstoffexport vor allem Korruption und Vetternwirtschaft beförderten. In den letzten Tagen und Wochen wurden immerhin schrittweise die gewaltigen Vermögenswerte freigegeben, die im Ausland lagerten und während des Kriegs eingefroren worden waren. Es handelt sich dabei um mindestens 115 Mrd. Euro, möglicherweise sogar mehr.

Die Ölförderung ist mittlerweile nach einem nahezu vollständigen Zusammenbruch wieder angelaufen, allerdings noch auf niedrigem Niveau. Das liegt auch an der zerstörten Infrastruktur, denn gerade die für den Export wichtigen Häfen wie Ras Lanuf waren besonders heftig umkämpft. Aber auch Straßen, Wohnungen, Stromversorgung und andere Objekte haben gelitten. Die internationalen Investoren stehen schon Schlange, neben den Amerikanern ganz besonders jene aus Deutschland, Frankreich und Italien. Dank Sarkozys militärischer Unterstützung dürften sich die französischen Unternehmen erst einmal in einer besonders guten Ausgangsposition befinden. Das muss aber nicht so bleiben, denn die traditionell wichtigsten Handelspartner Libyens sind Deutschland und vor allem die ehemalige Kolonialmacht Italien. Trotz anderslautender Drohungen gilt es mittlerweile als relativ sicher, dass die von Gaddafi und seinem Clan abgeschlossenen Verträge weiter Gültigkeit besitzen. Insbesondere BASF/Wintershall und RWE sind hier als deutsche Konzerne zu nennen. Voraussetzung für den Wiederaufbau und andere Geschäfte bleibt aber die Befriedung des Landes: Niemand investiert, wenn Gewalt und Willkür herrschen. Mittel- bis langfristig bleibt aber offen, wie groß der ausländische Einfluss sein wird, sei er nun politischer oder wirtschaftlicher Art.

Kürzlich kündigte die Regierung die Verlegung wichtiger Behörden nach Bengasi und Misurata an, um die aufkommenden Proteste zu beruhigen. Damit verbunden ist das Versprechen, auch die lange vernachlässigten Provinzen am potenziellen Reichtum des Landes zu beteiligen. Das Öl- und das Finanzministerium sollen in diese Städte umziehen. Wenn das mehr als eine symbolische Geste sein sollte, liegt darin sicher ein Schlüssel zur Lösung mancher Probleme. Denn eine administrative Dezentralisierung wäre zugleich eine Möglichkeit, weitere Bevölkerungsgruppen in den Aufbau des Staates einzubeziehen. Erklärtermaßen soll Bengasi in Zukunft die Wirtschaftsmetropole des Landes werden. Das Zentrum des Aufstandes würde so für seinen Einsatz gegen Gaddafi belohnt – vor allem aber würde die nachteilige Konzentration auf die Metropolregion Tripolis abgeschwächt.

Fazit

Zieht man alle genannten Faktoren in Betracht, kommt man kaum um eine Feststellung herum: So unübersichtlich wie die aktuelle Lage ist, so unsicher ist die Zukunft Libyens. Zwar gelang es, eine jahrzehntelange Diktatur zu beenden - doch zu welchem Preis? Vieles im Land ist zerstört, noch immer ist ein Ende der Gewalt nicht absehbar, und wer letztlich die Nachfolge an der Macht antreten wird, kann niemand wirklich voraussagen. Sicher, es gibt auch Positives zu vermelden: Die Wirtschaft kommt langsam wieder in Fahrt, erste Anzeichen für eine neue Zivilgesellschaft sind erkennbar. Aber diese Entwicklung bleibt fragil, stets überschattet von der Machtfrage und dem Treiben der alten Eliten. Und offen ist nach wie vor, ob und wie es gelingen wird, die zahlreichen Gruppen und Stämme zu einem harmonischen Ganzen zu vereinen.