Magazin Beitrag

Europa, endlos in der Krise

Die Eliten sind unfähig zu Reformen
G8-Treffen in Hunstville
G8-Treffen in Hunstville Bild von President of the European Council

Fast täglich liefern die Nachrichtenticker neue Krisenmeldungen über den Euro: Irland, Portugal, Griechenland, Spanien, Italien, wer ist der nächste Kandidat in der Schuldenfalle? Der »Rettungsschirm« wird stetig »nachgebessert« und »vergrößert«. Doch die Flickschuster Merkel und Sarkozy sind ebenso durchnässt wie ihre Kollegen im Süden Europas. Deren Politik weckt Zweifel an der Fähigkeit der Europäischen Eliten, die Gemeinschaftswährung zu stabilisieren. Vielmehr werden die Schwächen der Europäischen Union sichtbar, strukturelle Probleme zu lösen und grundlegende Reformen anzustoßen.

Ursachenforschung

Seit der zweiten Hälfte der 00er Jahre steht die Welt im Zeichen einer fundamentalen Krise des Kapitalismus. Der in den frühen 80er Jahren begonnene wirtschaftsliberale Umbau hat zu einer Boom-Phase geführt. Diese untergrub aber zugleich den notwendigen gesellschaftlichen Ausgleich, der zum Erfolg des fordistischen Zeitalters geführt hat: Die Massenkaufkraft der Arbeiterschaft bei gleichzeitiger Einhegung der Finanzmärkte. Die ungleicher werdende Verteilung des Volkseinkommens ist eine Ursache für unausgeglichene Handelsbilanzen. Die Lohnzurückhaltung in Deutschland hat den Exportüberschuß erst ermöglicht, da die ohnehin hohe Produktivität mit niedrigen Löhnen zusammenfiel. Jedem Überschuß steht aber auch ein Defizit gegenüber: Daraus können sich aufhäufende Schulden entstehen.

Doch die Krise des Euro hat ihre Ursachen nicht nur im globalen Umbau des Kapitalismus. Die Verschuldung der öffentlichen und privaten Haushalte ist eine logische Folge der negativen Handelsbilanz. Doch die davon betroffenen Länder hatten vor dem Beitritt zum Euro ein mächtiges Steuerungsinstrument in der Hand: Die eigene Währung, die abgewertet werden konnte, durch die an dem Leitzins geschraubt werden konnte oder im schlimmsten Fall einfach Geld geschöpft wurde. All diese Instrumente gaben die Euro-Staaten aus den Händen, als sie der Gemeinschaftswährung beitraten – ohne dafür einen Ausgleich zu erfahren.

Insofern ist die Bezeichnung als Schönwetter-Währung völlig richtig: Ohne eine verbindliche Verpflichtung zwischen den Staaten des Euro und der Gemeinschaft wurde ein Monstrum aus der Taufe gehoben, für das keine Instrumente im Krisenfall vorhanden waren. Die abweichende Produktivität im Euro-Raum führt zwangsläufig zu Schulden durch ungleiche Handelsbilanzen. Die Staaten mit einer schwachen Wirtschaft sind ohne eigene Währung eines wichtigen Instrumentes zum Gegensteuern beraubt. Die Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, die zur Angleichung der Wirtschaftsleistung geschaffen wurden, reichen zum Ausgleich der Wirtschaftsleistung nicht aus, zumal die Fonds nicht für den Euro geschaffen wurden. Die europäische Kommission hat offenbar einen mangelnden Überblick über die regionale Geldvergabe, öffenlich einsehbare Daten wurden nur von Journalisten erhoben. Eine umfassende und gezielte Investitionspolitik ist nicht erkennbar.

Täuschende Sprache führt zu fadenscheinigen Lösungen

Trotz dieser bereits bestehenden Regionalfonds wird in polemischer Absicht vor einer »Transfer-Union« gewarnt. Damit wird die Angst geschürt, dass reichere Regionen zum ständigen Zahlmeister für ärmere werden. Schon die Bezeichnung »Rettungsfonds« ist irreführend. Diese suggeriert, »Schuldensünder« hätten sich aus mangelnder Haushaltsdiziplin in eine ausweglose Lage manövriert. Somit werden die strukturellen Ursachen der Schuldenkrise unterschlagen. In diesem Bild »hilft« der »Exportweltmeister« Deutschland generös den »Schuldensündern« wie Griechenland, nicht ohne »Daumenschrauben« wie eine »Schuldenbremse« anzulegen und eine größere »Haushaltsdisziplin« zu fordern.

Strukturelle Probleme des Wirtschaftssytems werden durch eine solche Sprache personalisiert. Statt die Gründe der weltweiten Finanzkrise zu analysieren, sind »gierige Banker« die Mutter allen Übels. Nicht die Architektur der Euro-Währung wird in Frage gestellt, vielmehr haben »Schuldensünder« die Probleme verursacht. Diese Personalisierung lenkt von den eigentlichen Gründen ab: der Beichtstuhl ersetzt die Volkswirtschaftslehre. Doch mit den Methoden eines Priesterseminars lassen sich die aktuellen Krisen weder verstehen noch lösen. Tatsächlich wirkt die Gemeinschaftwährung wie eine Transfer-Union zugunsten der industriell produktiveren Ländern wie Deutschland, denen der Absatz ihrer Güter innerhalb der Eurozone erleichtert wird. Der wirtschaftlichen Schwäche der Peripherie müssen aber in einem einheitlichen Währungsraum Methoden des Ausgleichs entgegengstellt werden, die den Verlust der eigenen Währung kompensieren. Derartige Mittel sollen langfristig ein wirtschaftliches Gleichgewicht der Regionen anstreben.

Ein Spektrum an Handlungsmöglichkeiten

Zu einem Ausgleich kann erstens ein Aus- und Umbau der Regionalsfonds zählen. Diese sollten sich auf klare und vergleichbare Ziele an Stelle des Gießkannen-Prinzips fokussieren. Sie sollten sich nicht nur auf Wirtschaftsförderung, sondern stärker auch auf den Aufbau von Infrastuktur konzentrieren, auf gezielte Investitionsfelder. Zweitens sind Eurobonds ein kostengünstiges Mittel indirekter Umverteilung. Das Gejammer über angeblich höhere Kosten einzelner Staaten für ihre Staatsanleihen unterschlägt die anderen Folgenkosten im Vergleich. Drittens muß im gesamten Euroraum eine konjunkturfördernde Politik betrieben werden. Dies bedeutet die Inkaufnahme von hoher Staatsverschuldung für die Zeit der Krise, die wiederum Eurobonds erfordern, um die daraus entstehenden Zinsen im Rahmen zu halten. Die Schulden sollten an Investitionen in den schwächeren Ländern gekoppelt sein. Die höhere Nachfrage kommt allen Staaten zugute. Die aktuelle Sparpolitik führt in eine Abwärtsspirale, in der die Verschuldung einem schrumpfenden Bruttoinlandsprodukt entgegensteht. Zugleich bedarf es viertens spürbarer Lohnzuwächse in den industriellen Zentren wie Deutschland, um die Handelbilanzen auszugleichen.

Daneben sollte darüber nachgedacht werden, wie sich wirtschaftlich schwächere Regionen vor der Konkurrenz im Währungsraum zeitweise schützen können, um eine wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben. Dies ist zumindest günstiger als eine Subventionierung durch Fördermittel. Gleichzeitig sollte die EZB nicht als »Bad Bank« die Risiken der Privatbanken übernehmen, die sich in Staatsanleihen verhoben haben. Denn dies ist eine verschleierte Subvention des Bankensektors; wenn nötig, sollten die Banken offen gestützt werden. Vielmehr sollte die EZB fünftens auf das Ziel wirtschaftlichen Ausgleichs verpflichtet werden. Konkret würde dies beispielsweise eine Abwertung des Euro zum Ziel setzen. Die EZB sollte bei den Mitgliedsstaaten Standards transparenter Haushaltsführung und Besteuerung kontrollieren, ohne aber die Budgetfreiheit der Parlamente durch Schuldenbremsen einzuschränken.

Die Krise der Eliten

Dies ist nur ein beispielhaftes Spektrum von Handlungsmöglichkeiten, den Euroraum zu gestalten. Die Phrase einer Wirtschaftsregierung muß sich letzlich an dem darin enthaltenen Handlungsrepertoire messen. Ansonsten bleibt sie eine Leerformel für die Redenschreiber von Spitzenpolitikern. Die hier aufgezeigten Beispiele setzen jedoch ein Verständnis gegenseitiger Abhängigkeit und Solidarität vorraus, aus dem sich das Ziel eines wirtschaftlichen Ausgleichs ergibt. Bei den europäischen Regierungsspitzen darf an einem solchen politischen und volkswirtschaftlichen Verständnis erheblicher Zweifel angebracht sein. Alle Versuche zur Eindämmung der Krise des Euros waren bislang nur hastiges Stückwerk, das ständig »nachgebessert« werden muß. Eine nachhaltige Lösung bedarf der Abkehr von wirtschaftliberalen Dogmen, ein Vertrauen auf staatliche Interventionsfähigkeit. Dazu sind aber die Spitzenpolitiker unterschiedlicher Couleur nicht in der Lage.

Über zwei Jahrzehnte stand der Aufstieg der aktuellen Politikerkaste vor dem Hintergrund abnehmender Eingriffe in das Wirtschaftsgefüge. Nachdem in den 80er Jahren Thatcher und Reagan im konservativen Lager einen wirtschaftsliberalen Schwenk durchsetzten, folgten in den 90ern Blair und Schröder im sozialdemokratischen. Eine Umorientierung zu neuen Handlungsinstrumenten käme nun aber dem Eingeständnis der Eliten gleich, bisher eine falsche Richtung verfolgt zu haben. Sozialdemokratische wie konservative Politiker werden in erster Linie von Bankern, Mitarbeitern in Ministerien und Zentralbanken beraten, die aus einer wirtschaftsliberalen und monetaristischen Schule kommen. Insofern ist ein Ende der Eurokrise allein deshalb nicht zu erwarten, da die federführenden Eliten keine Wende in ihrem Handlungsrepertoire einleiten können und wollen. Die zur Zeit lenkenden Eliten sind mit einer an der Wirtschaft orientierten laissez-faire Politik groß geworden, sie kennen keine andere.

Chaotisches Europa

Europas größtes Problem sind seine Eliten. Dies betrifft jedoch nicht nur deren wirtschaftliche und politische Geisteshaltung. Vielmehr ist Europa zu einer Elitokratie verkommen. Dies liegt vor allem an der unklaren Kompetenzenverteilung zwischen Staatenbund und Staaten und der wirren Entscheidungsprozesse durch den Europäischen Rat. Die Europäische Union geht in ihrem Einfluß auf nationale Gesetzgebung längst über einen Staatenbund hinaus. Dabei übt die Kommission einen Einfluß gleich einer Regierung aus, ohne aber über eine angemessene demokratische Legitimation und Kontrolle zu verfügen. Dem Bürger ist nicht transparent nachvollziehbar, welche Entscheidungen auf nationaler und welche auf supranationaler Ebene getroffen werden. Jeder darf ein bißchen mitreden, im Krisenfall entscheiden aber Merkel und Sarkozy bilateral über das Schicksal des Euro. Diese Intransparenz steht der Idee eines demokratischen Europa entgegen.

Eine grundlegende Reform der Europäischen Union bedarf einer klaren Zielbestimmung. Eine deutliche Kompetenzabgrenzung bedeutet einen Rückbau der Union einerseits sowie eine Stärkung in bestimmten Bereichen andererseits. Zugleich verhindert aber eine Regierung nach Proporz, wie sie die Kommission darstellt, einen demokratischen Prozess. In der Not bedeutet der aktuelle Mittelweg zwischen Staatenbund und Bundesstaat den sicheren Tod. Gleich welche Lösung am Ende steht, führt sie über nachvollziehbare und für die Bürger transparente Kompetenzverteilung. Will man eine vertiefte Union, führt kein Weg an einem Zwei-Kammer-System vorbei, also einer repräsentativen Parlamentskammer und einer Vertretung der Staaten. Diese Kammern wählen dann eine Regierung; Wahlkämpfe ermöglichen den Wählern Eingriffe ins politische System. Will man dies nicht, muß die Kompetenz der Union deutlich zurückgebaut und zugleich klar definiert werden. Ob aber Bundesstaat oder Staatenbund, Grundlage ist ein verfassungsgebender Prozess, der unter Einbeziehung der Bürger enstehen muß und lange und harte Kontroversen vorraussetzt.

Ein Bundesstaat mit einer echten Regierung muß allerdings keineswegs auf die Vereinigten Staaten von Europas hinauslaufen. Auch ein solcher kann die nationale Souveränität der einzelnen Staaten wahren und in seiner Kompetenz überschaubar bleiben. Das politische System der USA ist jedenfalls kein Vorbild für Europa. Vielmehr bedarf es einer intelligenten und verständlichen Machtverteilung zwischen Bund, Staaten und Regionen.

Ein Europa ohne Staatsbürger

Der Sündenfall der Europäischen Union war der Lissabon-Vertrag. In mehreren Staaten wurde der Volkswille, das ablehende Votum zum vormaligen Verfassungsvertrag bei Volksabstimmungen brüsk übergangen. Die daraus folgende Entfremdung zwischen Bürgern und Staatenbund darf in diesem Fall niemanden erstaunen. Die Eurokrise zeigt darüber hinaus einen Mangel an Solidarität mit anderen Euro-Staaten. Diese Entsolidarisierung stellt die EU und den Euro weit mehr in Frage als die eigentliche Krise. Wenn die einzelnen Staaten nur noch ihren eigenen Vorteil suchen, kann von einer Union nicht die Rede sein. Das entstandene Mißtrauen wird dabei von einzelnen Interessengruppen gezielt gesät. Die Darstellung von einzelnen Staaten als Schmarotzer, die bereits dargestellte Personalisierung, dient dem Finanzsektor, der seine erheblichen Staatsanleihen retten will. Insofern entpuppt sich die Eurokrise als »Klassenkampf« zwischen dem in Banken investierten Kapital und den Staaten, die zur Kürzung ihrer Sozialbudgets und zum Verkauf von Staatsunternehmen gezwungen werden.

Dadurch wird die Sprengung der politischen Einheit Europas in Kauf genommen. An die Stelle eines politischen Europas tritt ein Europa der Interessensphären: Mit dem Geld hört die Freundschaft auf. Nachdem der Finanzsektor den Bürgern die Kosten der Krise erfolgreich aufgenötigt hat, setzten sich die Verlierer dieser Entwicklung zur Wehr: Demonstrationen gegen Sozialkürzungen und Jugendarbeitslosigkeit richten sich aber in erster Linie gegen nationale Regierungen, die unter Druck ihrer europäischen Partner gesetzt werden. Ob diese sozialen Bewegungen auf die europäische Politik Einfluß nehmen können, wird sich zeigen. Bislang fehlt ihnen politischer Einfluß und ein Programm.

Eine politische Union Europas ist ohne das Prinzip der Solidarität und gemeinschaftlicher Entwicklung nicht zu haben. Diese Solidarität muß von den Bürgern eingefordert werden. Nur sie können eine Reform der Union vorantreiben, wenn die Eliten dazu weder bereit noch in der Lage sind. Doch dazu bedarf es politischer Konzepte, allein der Druck der Straße reicht nicht aus. Eine offene Debatte über die Zukunft Europas ist dringend notwendig. Diese sollte zu Demokratisierung, Entscheidungstransparenz und Politisierung der Gemeinschaft beitragen. Wenn die Europäer für eine politische Union nicht bereit sind, bedarf es einer Begrenzung der Entscheidungsmacht der Europäischen Union. Dies würde aber konsequenterweise auch das Ende des Euro bedeuten; denn eine handlungsfähige Wirtschaftspolitik setzt eine gewählte Regierung voraus. Ansonsten droht die Diktatur der Technokraten und der großen Staaten.