Magazin Beitrag

Die dynastische Republik am Nil

Anmerkungen zu den Metamorphosen des politischen Stillstands
Kundgebung in Kairo im September: Ringen um Ägyptens Zukunft <br/>Bild von Nasser Nouri
Kundgebung in Kairo im September: Ringen um Ägyptens Zukunft Bild von Nasser Nouri

Die Ära des ägyptischen Präsidenten Mubarak neigt sich dem Ende zu. Bei anstehenden Parlamentswahlen droht erneut eine demokratische Farce. Ende November finden in Ägypten Unterhauswahlen statt, zehn Monate danach soll ein neuer Präsident gewählt werden. Seit beinahe drei Jahrzehnten regiert Husni Mubarak das größte arabische Land, doch diesmal könnte sein schlechter Gesundheitszustand eine weitere Amtszeit verhindern. Ägyptens Gerontokratie steht eine Zwangsverjüngung bevor.

Die Unterhauswahlen sind von unmittelbarer Bedeutung für die Präsidentenwahlen. Beobacher gehen von einem klaren Wahlsieg Mubaraks National-Demokratischer Partei (NDP) aus. Wenig deutet darauf hin, dass die NDP ihre Mehrheit im Parlament dazu nutzen wird, den Weg für faire Präsidentenwahlen und die dafür notwendigen Verfassungsreformen frei zu machen. Im Gegenteil, im Parlament wurden im Wechselspiel mit präsidialen Dekreten in den letzten Jahren jene Gesetze erlassen, die Justiz, Opposition und Zivilgesellschaft vor Wahlen entscheidend schwächen. Unter diesen Voraussetzungen darf sich die NDP in der Tat eines doppelten Wahlsiegs sicher sein. Es zeichnet sich bereits jetzt eine demokratische Farce ab.

Gamal Mubarak, der Sohn des 82-jährigen Präsidenten, gilt als ein aussichtsreicher Kandidat für das Präsidentenamt und könnte zum Angelpunkt des anstehenden Machttransfers werden. In den westlichen Außenministerien stellt man sich jedenfalls vorerst auf die Möglichkeit einer weitern dynastischen Republik im Nahen Osten ein. Nebenbei erörtert man die Rolle diverser Schattenfiguren im Militär, der NDP und den Ministerien, sollte Mubarak Senior vor Gamals Zieleinlauf sterben. So wird beispielsweise Omar Suleiman, Chef des mächtigen Inlandsgeheimdienstes (GIS) und Minister ohne Portfolio, als ein potentieller Nachfolger Mubaraks gehandelt. Unabhängig vom jeweiligen Szenario, ein Demokratisierungsprozess erscheint den meisten politischen Kommentatoren als unwahrscheinlich.

Doch seit einigen Jahren dringen zivilgesellschaftliche Proteste immer lautstarker an die Oberfläche. Die Opposition fordert seit Jahren verbissen die Aufhebung der Notstandsgesetze und eine Verfassungsänderung, die es parteilosen Kandidaten erlauben würde, bei den Präsidentenwahlen anzutreten. Die Justiz wehrt sich vehement gegen eine Verfassungsänderung jüngeren Datums, die der richterlichen Überwachung der Wahlen den Garaus machte. Auch die mächtige Muslimbruderschaft tauschte ihren erlahmenden Islamismus gegen notwendigen Pragmatismus ein und unterstützt seit Juli die zentrale Identifikationsfigur der Unzufriedenen, den ehemaligen Direktor der internationalen Atomenergiebehörde Mohamed El-Baradei. Seit seiner Rückkehr nach Ägypten konnte El-Baradei die ägyptische Öffentlichkeit im Sturm erobern und wurde in den letzten Monaten für viele zu einem Symbol für die Hoffnung auf demokratischen Wandel. El-Baradei selbst betont, dass er nur dann bei den Präsidentenwahlen antreten wird, wenn die Voraussetzungen für faire Wahlen gegeben sind.

Der Lausbub unter den arabischen Regimes

Im Nahen Osten gehört neben Saudi-Arabien und den Golfstaaten auch Ägypten zu den geostrategisch wichtigen Partnern des Westens. Beobachtet man die Außenpolitik europäischer Staaten und der USA, so wird eines deutlich: eine um Unabhängigkeit kämpfende Justiz, eine lebhafte Zivilgesellschaft und eine erstarkte Oppositionsbewegung werden der Stabilität und der Berechenbarkeit eines Regimes untergeordnet. Dieser gänzlich pragmatische Umgang mit arabischen Herrscherclans kennzeichnet insbesondere die US-Nahostpolitik seit Jahrzehnten. Dazu kommt die kategorische Weigerung der USA und der EU hinzu, moderate islamistische Bewegungen als legitimen Teil der lokalen Opposition anzuerkennen.

Ausgerechnet Präsident Bush setzte Ägypten 2005 unter Druck, der Opposition mehr Freiheit bei den Unterhauswahlen zu gewähren, mit dem Resultat, dass nominell unabhängige Kandidaten der Muslimbruderschaft 20 Prozent der Parlamentssitze erringen konnten. Daraufhin ruderte die US-Administration zurück, sämtliche Wahlen in den Jahren danach konnten wieder unter massiver Repression der Opposition stattfinden. Die Rückkehr zur traditionellen US-Nahostpolitik besiegelte Präsident Obama 2009 durch einen erneuerten Handschlag mit Husni Mubarak. Obamas mit Spannung erwartete Ansprache an die muslimische Welt fand an der Universität Kairo statt, und damit an einem Ort, an dem Studenten und akademisches Personal seit der Einführung des berüchtigten Universitätsgesetzes unter Präsident Sadat der täglichen Kontrolle und Repression einer im rechtsfreien Raum agierenden Staatssicherheit unterliegen.

In der westlichen Außenpolitik genießt Ägypten den Status eines regionalen Lausbuben, dem man nichts so richtig übel nehmen kann, weil er stets Besserung verspricht. Dieser Haltung liegt auch die Verklärung der politischen Entwicklung des Landes nach Gamal Abdel Nassers Tod zugrunde. Das zu würdigende Erbe Sadats, so erst neulich der Economist, beruhe auf der Initiierung eines erfolgreichen Liberalisierungsprozesses der Wirtschaft, der Einführung eines Mehrparteiensystems, dem Friedensschluss mit Israel und der konsequenten Hinwendung zum Westen. Nach diesem Narrativ führt Mubarak Sadats Erbe fort und hält zudem die Islamisten in Schach und das Militär unter Kontrolle. Ägypten sei zwar keine Demokratie, aber dennoch nicht so repressiv wie andere Regimes in der Region und – vor allem – ein verlässlicher Partner des Westens. Diese Position spiegelt sich im Handeln der außenpolitischen Entscheidungsträger in Europa und den USA wider.

Im Unterschied zu anderen arabischen Regimes wird Ägypten also weiterhin mit Samthandschuhen angefasst, und dass obwohl keinerlei Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher und politischer Liberalisierung erkennbar ist. Im Gegenteil, das Regime stellt in aller Deutlichkeit zur Schau, wie es mit einer Melange aus offener Repression und panoptischen Herrschaftmethoden die dauerhafte Entfaltung einer handlungsfähigen Opposition und einer frei agierenden Zivilgesellschaft zu verhindern versucht. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt, gehört das Land gehört nach Expertenmeinung zu den weltweiten Spitzenreitern bei den Ausgaben für innere Sicherheit.

Nach der partiellen Öffnung des politischen Systems bis zum Wendepunkt im Jahr 2005, schwingt das Pendel nunmehr seit mehreren Jahren weit zurück. Im Kleinen sind Polizeigewalt, Folter, willkürliche Verhaftungen oder die direkte Einflußnahme auf Gewerkschafts- und Studentenwahlen längst wieder Bestandteil des politischen Alltags geworden. Die Aufhebung der seit beinahe 30 Jahre geltenden Notstandsgesetze wurde erst vor kurzem unter dem Vorwand der Bekämpfung des Terrorismus erneut verschoben.

Autoritarismus 2.0

Die Stabilität des Regimes beruht auf der erstaunlichen Fähigkeit, erprobte Methoden der Herrschaftssicherung in autoritären Staaten mit den Zwängen der Globalisierung zu vereinen. Der Einschüchterung durch die Sicherheitsdienste wurde traditionell eine Strategie beigemengt, die die Loyalität eines gewichtigen Teils der Bevölkerung sicherte. Gamal Abdel Nasser, beispielsweise, konnte sich der Unterstützung hunderttausender aus bescheidenen Verhältnissen stammender Studenten erfreuen. Er führte den freien Hochschulzugang ein und versorgte jeden einzelnen Absolventen mit einer Anstellung im Staatsapparat. Diese klientelistische Beschäftigungspolitik musste bereits vor Jahren aus Kostengründen weitestgehend aufgegeben werden. Inzwischen dominieren islamistische Studentengruppen die wichtigsten öffentlichen Universitäten.

Dennoch vermochten es Sadat und Mubarak eine Zeit lang, den nach wie vor aufgeblähten Beamtenapparat, und insbesondere das Militär und die zahlreichen Sicherheitsleute, geschickt in ein kunstvolles Geflecht aus kleineren und größeren Privilegien, Korruption und Patronage einzubinden. Diese Legitimationsstrategie kann jedoch heute einen wachsenden Anteil der Gesellschaft, insbesondere die verarmende untere Mittelschicht, längst nicht mehr umfassen. Den Millionen verarmten Fellachen und Slumbewohnern steht nunmehr eine kleine Anzahl von Superreichen und Gewinnern einer selektiven Wirtschaftsliberalisierung gegenüber, die auch in Ägypten vor allem durch den rasanten Anstieg der Einkommensunterschiede gekennzeichnet war. Privatisierungen ermöglichten den neuen wirtschaftlichen und sozialen Eliten, wie auch den traditionellen staatsnahen Günstlingen und Unterstützern der Familie Mubarak zahlreiche lukrative Geschäfte. Das Militär selbst besitzt einige der größten und gewinnbringendsten Konzerne des Landes, in denen frühpensionierte Offiziere mit Geld und Privilegien ruhiggestellt werden. Währenddessen bewegt sich das ohnehin brüchige Sozialsystem durch die Auswirkungen der Wirtschaftskrise am Rande der Belastbarkeit.

Der seit zwei Jahrzehnten vom IWF und der Weltbank unterstützte Liberalisierungsprozess zog den stetigen Schwund der vormals subventionierten Mittelschicht als Regimestabilisator nach sich. Im Verbund mit der bereits von Sadat initiierten Islamisierungspolitik und Zerschlagung der Linken, beschleunigte dies den kometenhaften Aufstieg der vor allem in der Mittelschicht verwurzelten Islamisten. Letzere arbeiten seit den 1970ern daran, ein paralleles Sozial- und Bildungssystem aufzubauen und den Islam zur kulturauthentischen Lösung der post-kolonialen Identitätkrise, der hartnäckigen Wirtschaftsmisere und endemischen Korruption zu erheben. Die Eckpunkte des islamistischen Diskurses, vom Staat in einigen Bereichen mitgetragen und anderen angefochten, sind längst zum gesellschaftlichen Mainstream geworden.

Zu den traditionellen Herrschaftsmethoden sind neue dazu gestoßen. Die Überwachung moderner Kommunikationsmedien stellt einerseits eine Herausforderung für die Sicherheitsdienste dar, andererseits können gezielt Exempel statuiert werden. Regelmäßige Verhaftungen regimekritischer Blogger unterstreichen jene roten Linien, die auch in der virtuellen Öffentlichkeit nicht mehr überschritten werden dürfen. Traditionelle Zensur wird durch die stete Möglichkeit des Überwachtwerdens in eine Kultur der Selbstzensur übergeführt. Kommunikation, Koordination und Mobilisierung über SMS-Verkehr und das Internet, von großer Bedeutung während der zivilgesellschaftlichen Proteste zwischen 2004 und 2005, können mittlerweile durch die mit modernsten Gerät ausgestatteten Sicherheitsdienste besser überwacht und blockiert werden. Die steile Lernkurve des Regimes zeigt sich auch in den im Oktober verlautbarten Dekreten, die die Opposition kurz vor den Wahlen schwer treffen. Zum Versenden von Massenemails- und –sms benötigt man nun eine Sondergenehmigung durch Regierungsstellen, die gleichzeitig Druck auf die Telefon- und Providergesellschaften ausüben. Es bleibt abzuwarten, wer mittelfristig im digitalen Raum die Oberhand gewinnen wird.

Zudem gibt es in etwa drei Dutzend maßgeschneiderte Mediengesetze, durch die eine unabhängige und kritische Berichterstattung in einen strafrechtlich relevanten Tatbestand uminterpretiert werden kann. Allein in den letzten Wochen verschwanden zahlreiche TV-Sendungen aus dem Äther, ganze Zeitungen wurden übernommen und deren Journalisten entlassen.  Vier islamischen TV-Sendern wurde die Lizenz entzogen, Mubaraks Privatsatelliten weiterhin zu nutzen.

Trotz des primitiven Muskelspiels anlässlich der Wahlen hat das Regime jedoch begriffen, dass sein längerfristiges Überleben von der Kapazität des Staates abhängt, soziale Dienstleistungen auszuweiten, und vor allem tiefgreifende Reformen des Bildungssystems und Arbeitsmarktes vorzunehmen, um die Perspektivlosigkeit einer rasant anwachsenden jungen Bevölkerung zu bekämpfen. Dieses Vorhaben schreitet nur sehr schleppend voran, da dem ägyptischen Staat im Gegensatz zu den wohlhabenden Staaten der Region nicht nur die Erfahrung, sondern auch die Mittel für derartige Reformvorhaben fehlen. Somit bleibt als Ventil für die sich aufstauende Frustration in der Bevölkerung und gelegentlichen Druck von außen eine eine temporäre politische Öffnung, die bei Bedarf von einer neuen Welle der Repression abgelöst wird. Kernbereiche der politischen Macht bleiben innerhalb dieses Kreislaufs ungeöffnet. Die Option eines tiefergreifenden Demokratisierungsprozesses muss von der Regimeelite derzeit nicht ernsthaft in Erwägung gezogen werden, wofür es einige gute Gründe gibt.

Stabilisierung durch den Westen

Von den USA und der EU finanzierte Demokratieförderungsprogramme in Ägypten, wie in der Region insgesamt, sind zum Scheitern verurteilt, weil sie in eine außen- und entwicklungspolitische Schizophrenie eingebettet sind. Ägypten ist kein Ölrentierstaat im klassischen Sinne, verfügt über vergleichsweise geringe Rohstoffvorkommen und produktive Sektoren, die es dem Staat ermöglichen würden, sich direkt genug Mittel anzueignen um damit das Schweigen eines Großteils der Bevölkerung zu erkaufen. Die von einigen Ölstaaten praktizierte Immunisierungsstrategie gegenüber dem Westen, die auf einer engeren Anbindung an rohstoffhungrige Staaten wie China beruht, steht Ägypten damit nicht zur Verfügung. Die wenigen vorhandenen freien Mittel dienen dem Regime in erster Linie zur Stärkung der inneren Sicherheit und zur Auseinandersetzung mit populistischen sozialen Bewegungen. Der immer wiederkehrenden Behauptung, es handle sich bei Ägypten um ein Land, dessen innenpolitische Dynamik man schwer beeinflussen könne, kann durch eine einfache Frage begegnet werden: Woher kommen diese Mittel?

Jährlich überweisen die USA 1,3 Milliarden Dollar an Militärhilfe, dazu kommen in etwa 250 Millionen Dollar an Entwicklungshilfe und direkter Budgethilfe. Die EU ihrerseits unterstützt das Land seit 2007 im Rahmen der europäischen Nachbarschaftspolitik mit 550 Millionen Euro pro Jahr. 95% dieser Gelder, die in Summe 5-6% des jährlichen Staatshaushaltes ausmachen, werden Ägypten ohne Auflagen hinsichtlich einer Verbesserung der menschenrechtlichten Situation zur Verfügung gestellt. Die Auslandshilfe ersetzt im Falle Ägyptens teils jene Ölrente, die in anderen autoritären Staaten der Region die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und die Alimentierung des öffentlichten Sektors gewährleistet.

Genauso wichtig sind die wirtschaftlichen Verknüpfungen zu den USA und der EU. 42% der ägyptischen Exporte gehen in die EU, 37% der ägyptischen Importe kommen aus EU-Ländern, amerikanische und europäische Investoren kapitalisieren ägyptische Unternehmen, westliche Multinationals übernehmen die Erschließung neuer Öl- und Gasfelder. Sowohl den USA als auch der EU stünden robuste Zuckerbrot- und Peitschenmethoden zur Verfügung, um neue Dynamik in den Demokratisierungsprozess zu bringen. Doch wichtige Entscheidungsträger in Washington und den europäischen Hauptstädten betrachten Ägypten, wie den Nahen Osten insgesamt, beinahe ausschließlich im Lichte einer eng gefassten Sicherheitspolitik. Ein radikaler demokratischer Wandel in Ägypten zum jetzigen Zeitpunkt wäre angesichts der Stärke der islamistischen Opposition nicht Teil der Lösung, sondern hätte destabilisierende Folgen in der Region. Nach genau derselben Logik argumentiert das ägyptische Regime um Kritik am demokratischen Stillstand zu entkräften.

Daher sinniert man lieber gemeinsam über den Aufbau von Governancestrukturen, vertiefte Liberalisierung, regionale Zusammenarbeit, den Abbau von Handelsschranken und Ähnliches. So zielt die europäische Sicherheitspolitik beispielsweise auf die Unterstützung der Reformen im Bildungs- und Arbeitsmarktsektor durch enge Zusammenarbeit mit örtlichen Technokraten ab. Gleichzeitig versucht man, die Massen von jungen ägyptischen Arbeitlosen und die in immer größeren Zahlen in Ägypten gestrandeten Flüchtlinge aus dem sub-saharischen Afrika vom Betreten des europäischen Kontinents abzuhalten.

Diese Politik des Westens zieht somit eine temporäre Stabilisierung eines längst an die Grenzen seiner Legitimität gestoßenen Regimes nach sich. Man muss kein nahöstlicher Prophet sein, um zu erkennen, dass hier gleichzeitig die langfristigen Bedingungen für eine weitere Radikalisierung geschaffen werden, auf deren Verlauf man dann tatsächlich wenig Einfluss haben wird.


Dieser Beitrag erschien ursprünglich bei Al Sharq.

Thomas Pantoi ist Doktorand am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien und forscht über islamistische Studentengruppen an ägyptischen Universitäten.