Magazin Beitrag
Auf der Kippe
Seit über zehn Jahren führt der Westen, Deutschland eingeschlossen, in Afghanistan Krieg. Auch wenn die Regierungen nicht müde werden, die euphemistisch „Engagement“ genannte Intervention als Erfolg zu verkaufen, ist die Lage vor Ort alles andere als rosig. Nun soll eine Konferenz in Bonn klären, wie es nach dem weitgehenden Abzug der westlichen Truppen 2014 weitergeht. Grund genug also für eine kritische Bestandsaufnahme.
Mittlerweile glaubt kaum noch jemand daran, in Afghanistan eine funktionierende Demokratie aufbauen zu können. Stattdessen geht es – mal offen eingestanden, mal hinter vorgehaltener Hand – vor allem um zwei Ziele. Einmal soll der Rückzug nicht als das erscheinen, was er de facto ist: Eine schmähliche Kapitulation. Zum anderen will man auch in Zukunft nicht jeden Einfluss in der Region verlieren. Die humanitäre Lage ist einzelnen Jubelmeldungen zum Trotz katastrophal. Die Mütter- und Kindersterblichkeit etwa ist noch immer die höchste der Welt, viele leiden unter Mangelernährung.
Tatsächlich hat sich die Regierung Karzai nicht nur als überaus korrupt, sondern auch als unfähig erwiesen. Dass sie nicht demokratisch legitimiert ist, haben die letzten Präsidentschaftswahlen zur Genüge erwiesen. Selbst der Westen tat sich schwer, die massiven Wahlfälschungen zu ignorieren. Man hat aber kaum eine andere Option, denn die Aufständischen – allzu vereinfacht unter der Bezeichnung „Taliban“ subsummiert – weigern sich trotz wiederholter Angebote, an einem Verhandlungstisch mit den Besatzern Platz zu nehmen. Und so greift man auf ein Regime zurück, das nicht nur massiv und systematisch foltert, sondern auch selbst in kriminelle Machenschaften wie etwa den Drogenhandel involviert ist. Kürzlich durften man sogar mit ansehen, wie sich Karzai von einer ominösen Stammesversammlung Rückendeckung für seine Politik geben ließ. Unter den Augen Guido Westerwelles beschloss diese in keinster Weise demokratisch bestimmte, handverlesene Ansammlung von Provinzfürsten, den ausländischen Truppen eine Reihe von Kompetenzen zu entreißen. Unter anderem sollen die unbeliebten nächtlichen Razzien unterbleiben und kriminelle Amerikaner im Lande verurteilt werden. Gewiss, das war eher ein symbolischer Akt, denn reale Macht steht hinter diesem Beschluss kaum, zumal das Parlament überhaupt nicht gefragt wurde. Aber es war doch ein nicht zu übersehender Hinweis darauf, wie sehr selbst die lokalen Eliten vom Westen und seiner rücksichtslosen Kriegsführung enttäuscht sind. Das verheißt für die künftige Zusammenarbeit nichts Gutes.
Mögliche Szenarien
Unabhängige Experten sind sich mit Geheimdiensten einig, dass nach dem Ende der Besatzung ein Bürgerkrieg droht. Dabei wird freilich „übersehen“, dass dieser schon längst im Gange ist, die wachsende Gewalt belegt das eindeutig. Dennoch kann die Lage weiter eskalieren. Mehrere Szenarien sind grundsätzlich möglich. Einmal ist es denkbar, dass sich die bisherige Mannschaft in Kabul weitgehend an der Macht halten kann und sich so eine fragile Oligarchie festsetzt. Eventuell wird die Macht sogar mit den Taliban geteilt – Option zwei. In beiden Fällen aber wird das Land von Korruption, Instabilität und Kriminalität geprägt sein. Ebenfalls denkbar sind ein eskalierender Bürgerkrieg, während dem die ohnehin schwachen Zentralorgane wie Armee und Polizei endgültig zerfallen und die Provinzfürsten mit ihren ausländischen Unterstützern Teile des Landes beherrschen. Vielleicht etablieren sich nach einer gewaltsamen Auseinandersetzung und dem Abzug des Westens auch erneut die Taliban als führende bzw. alleinige politische Kraft.
In jedem Fall häng die Entwicklung aber von einer Reihe von Einflussfaktoren ab: Wie verändert sich die Balance zwischen Regierung und lokalen Machthabern? Wohin tendiert die Bevölkerung? Und wie wird die zukünftige Rolle der USA aussehen? Welches dieser Szenarien auch eintritt, eines ist jedenfalls klar: Keines von ihnen kann den massiven Militäreinsatz seit knapp zehn Jahren rechtfertigen. Er hat das Land jedenfalls kaum vorangebracht – und von einer geringeren Terrorgefahr kann angesichts der Verbitterung in Afghanistan und anderswo über das Vorgehen der westlichen Besatzer auch keine Rede sein. Die Welt ist dadurch nicht sicherer geworden, für niemanden.
Pakistans Rolle
Nach dem Bombardement pakistanischer Grenzposten durch die NATO mit über 20 Toten hat Islamabad die Teilnahme an der Konferenz in Bonn kurzfristig abgesagt. Damit ist ein Erfolg – wie auch immer dieser definiert wird – schon im Vorfeld fast unmöglich geworden. Denn Pakistan spielt ohne Zweifel eine Schlüsselrolle in der Region. Nur widerwillig an die Seite der USA in den „war on terror“ eingetreten, hielten sich die wechselnden Regierungen dort immer ein Hintertürchen offen. Hinzu kommt, dass der mächtige Geheimdienst ISI eine undurchsichtige und recht eigenständige Politik treibt. Das zeigten nicht zuletzt die Merkwürdigkeiten bei der Tötung Osama bin Ladens, der sehr wahrscheinlich mit Wissen des ISI unbehelligt und jahrelang im Lande sein Hauptquartier aufschlagen konnte.
Gegenüber Pakistan hat der Westen viele – und vermeidbare – Fehler begangen, welche die Stimmung im Land zunehmend kritisch werden ließen. Etwa der Einsatz bewaffneter Drohnen, die Terroristen im Grenzgebiet töten sollten, dabei aber auch hunderte, wenn nicht tausende Zivilisten das Leben kosteten. Seit 2004 werden diese völkerrechtswidrigen Angriffe geflogen, unter Obama wurden sie sogar noch ausgeweitet. Der Autor Ahmed Rashid dagegen meint, die eigentliche Ursache für den Rückzieher Pakistans sei innenpolitischen Kämpfen zwischen Regierung und Armee geschuldet. Dennoch betont auch er, wie wichtig das Land für die Entwicklung Afghanistans ist.
Aus der Geschichte lernen?
Die wirtschaftlichen Probleme Afghanistans machen eine Lösung auch nicht einfacher. Noch immer ist das Land weitgehend von ausländischen Geldern abhängig, etwa 90 Prozent des Staatshaushalts kommen von dort. Allein der Sicherheitsapparat verschlingt jährlich mehrere Milliarden Dollar. Sollte der Westen nach seinem weitgehenden Abzug also die Zahlungen einstellen oder signifikant verringern, wird sich die Regierung wohl kaum lange gegen die Aufständischen behaupten können. Man wird hier unweigerlich an einen anderen Krieg erinnert: Als die USA aus Vietnam abzogen, brach das dortige Regime innerhalb kurzer Zeit zusammen. Sicherlich kann man die beiden Schauplätze nur sehr bedingt vergleichen, aber die Parallelen sind nicht zu übersehen: Hier das korrupte, undemokratische Regime, von den USA massiv mit Truppen und Waffenlieferungen gestützt. Dort die Rebellenbewegung, die sich trotz ihrer nominellen Unterlegenheit in fast allen Bereichen halten kann und das unwegsame Hinterland abseits der großen Städte beherrscht. Auch damals stellte sich schnell die Frage, wen man da eigentlich unterstützt und warum. Wie heißt es doch so schön: Man darf jeden Fehler machen – nur nicht zweimal.