Magazin Beitrag

Repression in progress

Sich progressiv wähnende Europäer auf Kreuzzug

Dass selbst die progressive Geisteshaltung immer häufiger mit konservativen und repressiven Extrakten versetzt ist, mutet mittlerweile ja leider nicht mehr neu an, entmutigt aber stets aufs Neue. In Tagen, in denen progressives Denken soviel heißt wie Brosamen aufsammeln, tapst man unwillkürlich in repressive Fußspuren, ohne dass es einem auch nur ansatzweise gewahr wird.

Gemeinhin zeichnet sich das progressive Lager dadurch aus, sich mit der Bewahrung und Konservierung alter, damals schon überholungsbedürftiger Standards zu befassen - anders gesagt: der Progressivismus sattelt zum Konservatismus um, weint Altem hinterher, weil ein besseres Neues für ihn heutigentags nahezu ausgeschlossen scheint. Wollte beispielsweise die progressive Gesellschaftsdynamik der Sechziger- und Siebzigerjahre noch mehr Mitbestimmung und reichlichere soziale Sicherheit für Arbeitnehmer, so wären diejenigen, die heute glauben besonders fortschrittlich zu denken, schon damit zufrieden, wenn der alte, durchaus reformbedürftige Standard mangelhafter Mitbestimmung und ausbaufähiger sozialer Sicherheit wiederhergestellt würde. Der Progressive trauert gegenwärtig überwiegend antiquierten Gegebenheiten nach, die dazumal schon verbesserungswürdig und reformbedürftig waren, die jedoch im Vergleich zu heute schon fast modern und fortschrittlich daherkommen - progressiv zu sein heißt gegenwärtig, trübsinnig zurückzublicken und die letzte abgestandene Neige an Bewahrenswerten zu erhalten, einzufrieren, zu konservieren.

Durchdrungen wird diese ohnehin schon rückwärtsgewandte Auffassung mit allerlei reaktionären und herrischen Symptomen - sich dem morsch gewordenen progressiven Lager zugehörig zu fühlen, beinhaltet aktuell auch, Luftsprünge zu machen, wenn grundlegende Freiheitsrechte gestutzt werden sollen - dient es nur einem übergeordneten Ziel oder einem absoluten Dogma, so destilliert man aus der beschnittenen Freiheit plötzlich eine fortschrittliche Leistung. Man ziehe als mustergültiges Beispiel nur mal das namentliche Burka-Verbot heran, wie es nun in einer Welle islamophoben Kleingeists über Europa schwappt. Selbstverständlich ist der Anblick einer vollkommen eingehüllten Frau für unsere europäischen Augen sehr gewöhnungsbedürftig; selbstverständlich sollte keine Frau von Manneshand gezwungen werden, ein solches Gewand tragen zu müssen - aber den Mummenschanz grundsätzlich und rigoros zu verbieten, damit auch jene Frauen zu kriminalisieren, die dieses Gewand aus welchen weltanschaulichen Gründen auch immer, mit Vorliebe tragen: dies kann nie und nimmer fortschrittlich sein, auch dann nicht, wenn sich - wie geschehen - Stimmen aus progressiveren Kreisen freudig zur Einführung eines solchen Verbotes äußern. Man kann als fortschrittlich denkender Mensch durchweg der Burka skeptisch gegenüberstehen, mag sich wundern, dass Frauen freiwillig eine solche Kluft tragen: aber die Freiheit einzuschränken, am Leibe die Kleidung zu tragen, die man tragen möchte, den Leib so zu verbergen, wie es einem gerade lieb ist, das ist keine fortschrittliche Option.

Das Recht auf Burka, ihm wohnt kein konservativer Antrieb inne, nach dem Motto: Burka ist Tradition, war immer und muß daher erhalten bleiben - das Recht auf Burka ist ein Freiheitsrecht, wenn auch unter extremer Auslegung. Eine selbsterklärt freiheitlich-demokratische Gesellschaft muß die Burka aushalten können, zumal sie kein Massenphänomen ist. Sich kritisch zum Burka-Verbot zu äußern ist gefährlich, läßt einen die gesamte progressive Reputation verlorengehen - wer für Verschleierung ist, muß repressiv sein, ein antifeministischer Faschist, ein schlechter Mensch ohnehin! Das heutige progressive Lebensgefühl ist oftmals von tyrannischen Impulsen durchzogen. Bestimmten Menschen die Burka oder wie letztens das Rauchen zu verbieten, weil das alles ja ach so vernünftig ist, ist nicht unbedingt die Entscheidung konservativer Klientel - gerade sich progressiv wähnende Menschen halten das Vernunftsdiktat, den auf die angebliche Ratio fußenden Imperativ, der das irrationale Wesen des Menschen völlig verleugnet, für mehr als attraktiv. Für die gute Sache, so argumentieren sie, dürfe das Ziel auch gerne mit Gewalt durchgesetzt werden. Die Progressiven sind unter wirtschaftlichen Zwang konservativ geworden, wollen im zeitgenössischen Klima der gesellschaftlichen Zersetzung und Entsolidarisierung bewahren und konservieren, was einst der höchste Stand der freiheitlichen und sozialen Ordnung war - und sie haben, wahrscheinlich, weil sie derart in die Ecke gedrängt werden, einen reaktionären und repressiven Beißreflex entwickelt. Anders, so meinen sie vermutlich, können sie heute keine gesellschaftlichen Verbesserungen mehr bewirken.

Dieser Artikel erschien ursprünglich bei ad sinistram.