Presseschau Beitrag

Zwang zur Selbstoptimierung

Grenzenloses Wachstum als kulturelles Leitbild
"Das Wirtschaftswachstum bringt uns immer näher an die Funktionsgrenze des Systems."
"Das Wirtschaftswachstum bringt uns immer näher an die Funktionsgrenze des Systems." Bild von Zanthia

Als die Folgen der ausufernden Industriegesellschaft als Raubbau an Natur und Mensch in den 70er Jahren unübersehbar wurden, stellte sich erstmals einer breiten Öffentlichkeit die Frage nach den Grenzen des endlos scheinenden Wirtschaftswachstum. Trotz des erreichten Zenits der Ölförderung zählt Harald Welzer heute jedoch zu den eher wenigen Intellektuellen, welche dieses spezifische Fundament des Kapitalismus kritisieren.

Das fehlende Bewußtsein über die Grundlagen unseres modernen Lebens beruht auf der völligen Verinnerlichung und Affirmation des Wachstums – mit dieser Überlegung erweitert Welzer in zwei jüngst erschienenden Schriften in den Blättern und dem SZ-Magazin sein Forschungsgebiet von einer Wirtschafts- zu einer allgemeinen Gesellschaftskritik.  Diese leitet er aus der Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus der vergangenen 200 Jahre ab. So gelingt eine Kulturkritik, die viele Eigenschaften des Selbst- und Weltbildes des modernen Menschen herausschält: Dem im ewigen Werden der Waren- und Selbstproduktion gefangenen Menschen der Leistungsgesellschaft.

Die kürzere und pointiertere Fassung dieses Gedankens findet sich im SZ-Magazin. Die allgemeine Erkenntnis über die Grenzen der Ausbeutung der Natur in ihrer heutigen Form führt demnach keineswegs zum entschlossenen Handeln. Die mangelnde Fähigkeit zur Überwindung unserer Lebensweise begründet sich in der Durchdringung der Kultur durch das Wachstumsdenken:

Wachstum als wirtschaftliche Leitvorstellung, das Glaubensbekenntnis aller lebenden Politiker und Wirtschaftsweisen, die Zivilreligion aller Industrienationen, ist nicht vom Himmel gefallen. Sie ist gerade mal zwei Generationen alt. Zur ökonomischen Leitwährung wurde das Wachstumsdenken erst im Kalten Krieg, weil man ja irgendwie messen musste, ob nun Kommunismus oder Kapitalismus das sportlichere System war.

Harald Welzer Bild von morgenland_festival

Die konsequente Planung der eigenen Biographie erkennt Welzer als eine moderne Erfindung – eine Buchführung der eigenen Zeit, die erst durch die Erschließung und Ausbeutung der Ressourcen im aufkommenden Kapitalimus möglich wird. Die bürgerliche Freiheit zur Gestaltung des eigenen Lebens wird zum Zwang, zur Disziplinierung, die immer auf ein Werden in der Zukunft gerichtet ist. Die Arbeit ist nicht durch das Erreichen eines Zwecks erfüllt, das Ziel ist, die Produktion am Laufen zu halten: »Das nächste Update wartet schon.«

Theoretisch fundiert wird dieser Ansatz in den Blättern für deutsche und internationale Politik mit dezenten Verweisen auf Karl Marx und Max Weber sowie Bezügen zu einem weiten Feld heutiger Forschung dargestellt. Das Zeitverständnis vor der Industrialisierung war nicht auf die Zukunft gerichtet, sondern Teil eines ewigen Gefüges. Exemplarisch deutlich wird diese neue Zeitform in der Buchhaltung als Mittel zur Kontrolle. Diese Vermessung menschlichen Handelns ermöglicht die Planung von Wirtschaft als auch Leben und durchdringt zunehmend alle Elemente der Kultur.

Die mentale Infrastruktur des sich immer nur als Vorstufe des nächsten Entwicklungsschritts begreifenden Subjekts lässt sich in den Figuren des „lebenslangen Lernens“, des „produktiven Alterns“ ebenso wiederfinden wie in den esoterischen Selbstfindungssuchen nach dem „wahren Ich“, dem „positiven Leben“, die systematisch genauso wenig jemals an ein Ende kommen können wie die Selbstausbeutungsfetischismen der Laptop-Männer, die alle Züge, Flugzeuge und Warte-Lounges dieser Welt bevölkern. Alle werden niemals fertig.

Diese Welt, die immer auf das Produkt, also das Werdende ausgerichet ist, erzeugt einen Verlust an klarer Identität. An die Stelle von festen Zugehörigkeiten treten lose Eigenschaften, an Stelle von Ehepartnern Lebensabschnittspartner. Doch dieses Lebensmodell ist kein Wunschkonzert, sondern die Verinnerlichung der Produktionsbedingungen.

So kurz und verkürzt diese historische Rekonstruktion sein mag, so zeigt sie doch, dass mit der Errichtung der materiellen und institutionellen Infrastrukturen der Moderne sich zugleich die mentalen Infrastrukturen ihrer Bewohner verändert haben – und zwar so, dass ihnen die Zwänge zur permanenten Fortentwicklung und Selbstoptimierung längst und unbemerkt zum Selbstzwang geworden sind – so sehr, dass kaum noch jemand auf die Idee kommt zu fragen, wozu das alles eigentlich gut sein soll.

Harald Welzer hat mit dieser Kulturkritik den Ansatz für einen großen Wurf gefunden, der viele Aspekte unserer Lebenswelt aus ihrer Enstehungsgeschichte heraus beschreibt: Eine Entfremdung, welche Industriegesellschaften bis zur Unkenntlichkeit durchdringt. Erstaunlich klar ist das Bild einer trügerischen Freiheit zu eigenen Lebensentwürfen, die sich doch den Produktionsprozessen unterordnet. Welzers eingehende Beschäftigung mit den unsichtbaren Linien der modernen Gesellschaft lässt auf ein umfangreiches Werk hoffen, in dem auch die Bezüge zu Michel Foucault und Jean Baudrillard herausgearbeitet werden.