Magazin Beitrag

Der Abstieg ins Chaos

Eine Rezension des Buchs »Descent into Chaos« von Ahmed Rashid
Der Abstieg ins Chaos

Der pakistanische Journalist Ahmed Rashid hat tiefgreifende Kenntnis über die inneren Angelegenheiten der Taliban. In den 60er und 70er Jahren kämpfte er in Balochistan (die im Westen an Afghanistan und Iran grenzende, größte Provinz Pakistans) gegen die pakistanische Armee. Diese Erfahrung ermöglicht es ihm, sich in die Geisteshaltung nicht-staatlicher Kämpfer der Region hineinzuversetzen und deren Strukturen zu verstehen1 .

Außerdem begleitete er jahrelang die Mudschaheddin als Reporter und war mit den Taliban in Kabol, als diese die afghanische Hauptstadt 1996 einnahmen. Das gesammelte Wissen über diese damals neuartige Gruppe veröffentlichte er 2001 (vor 9/11) in seinem vielbeachteten Buch über die Taliban.

Auf knapp 500 Seiten legt er in seinem neusten Buch »Descent into chaos« die These dar, die Politik der westlichen Mächte in Zentralasien, insbesondere der Vereinigten Staaten, sei gescheitert und hätte einen Abwärtstrend in der Entwicklung der Region verursacht. Insbesondere beim Nation Building, allem voran in Afghanistan, hätten die Vereinigten Staaten versagt, da sie nie wirklich an Afghanistan und seiner langfristigen Entwicklung interessiert gewesen wären und kurz nach dem Sieg über die Taliban ihre Kräfte auf Irak konzentriert hätten. Ohne den Willen und das Engagement der nun beteiligten internationalen Kräfte aber würde in dieser Region keine Stabilität einkehren:

»The region of South and Central Asia will not see stability  unless there is a new global compact among the leadig players – the United States, the European Union, NATO, and the UN – to help this region resolve its problems […]« .

An einigen Stellen scheint es, als würde der Autor das abergleiche Lied singen, das so gern und oft von der pakistanischen zivilen Elite vorgetragen wird. Dass die Schuld für den Verfall Pakistans vor allem bei den Amerikanern liegen würde, die Pakistan nur als Militärstützpunkt nutzten und nicht seine langfristige (demokratische) Entwicklung im Sinn hätten. Besonders die schwarz-weiße Darstellung der Ereignisse um Benazir Bhutto vor der Parlamentswahl 2008 ähnelt eher einem Märchen als einer ausgewogenen Beschreibung. Seine klare Einteilung in Opfer und Täter, Helden und Mörder (= Benazir Bhutto vs. pakistanisches Militär/ Geheimdienst) ist äußerst fragwürdig und unkontrastiert; gegenüber Benazir Bhutto ist er gänzlich unkritisch.

Dennoch behandelt er die Frage der Schuld am Verfall Pakistans differenziert und räumt auch die Verantwortung einiger Akteure innerhalb Pakistans ein. So stellt er das gefährliche Doppelspiel der pakistanischen Armee und den ihr unterstellten Geheimdiensten dar, ohne deren Umdenken auch keine Stabilität in Pakistan und Afghanistan möglich ist. Lange Zeit hat das pakistanische Militär die afghanischen Taliban als strategisches Kapital betrachtet. Also als Instrument dafür, Indien im Falle eines Krieges in Schach zu halten und in Afghanistan eine Pakistan wohlgesinnte Regierung zu schaffen. Wie fatal diese Strategie ist, macht Rashid deutlich, indem er aufzeigt, wie eng die pakistanischen Taliban um Baitullah Mahsud mit ihren afghanischen Brüdern, deren Rückzugsgebiet und sicheres Quartier in der belochischen Hauptstadt Quetta liegt, verbunden sind. Und wie also die Unterstützung der afghanischen Taliban automatisch die Entwicklung der pakistanischen Talibanorganisation fördert und somit Pakistans eigene Stabilität und Sicherheit gefährdet. Erst vor kurzem hat dies teilweise zu dem nötigen Umdenken innerhalb des pakistanischen Militärs geführt, woraufhin es begonnen hat, die Aufständigen in den Stammesgebieten härter zu bekämpfen.

Sein Wissen über die Köpfe der militanten Gruppen und ihre Aufenthaltsorte ist umfangreich. In diesem Zusammenhang stellt er dar, wie terroristische Gruppen in den Stammesgebieten, die Afghanistan und Pakistan verbinden, unter dem Schutz der pakistanischen Armee Fuß fassen konnten – und nun eine Bedrohung für die ganze Welt darstellen. Zum Beispiel führen die Spuren europäischer Selbstmordattentäter in diese Gebiete, die terroristische Infrastruktur wie etwa Trainingslager beherbergen. Für die Lösung dieses Problems und die Umkehrung dieser besorgniserregenden Entwicklung sieht er nur ein  kleines Zeitfenster, das es mit gemeinsamer Anstrengung internationaler und regionaler Mächte zu nutzen gilt. Für einen zentralen Ansatz hält er hier den wirtschaftlichen Aufbau der Stammesgebiete:

«[…] funding a massive education and job-creation program in the borderlands between Afghanistan and Pakistan«.

Ob dieser Ansatz erfolgversprechend ist, bleibt fraglich. Ein kausaler Zusammenhang zwischen Armut oder Bildungsstand und der Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung besteht nach sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht. Zu Rashids Gunsten muss man allerdings einräumen, dass nicht klar ist, ob es sich bei den Taliban um Terroristen oder Partisanen handelt. So verhalten sie sich teilweise wie Partisanen, indem sie Armeeposten und Konvois in großer Überzahl angreifen (Irregularität), Verwaltungsapparate einrichten (politisches Engagement) und sich größtenteils aus der männlichen Jugend der Gegend rekrutieren (lokale Verbundenheit),2 führen aber gleichzeitig Bombenattentate auf Zivilisten inner- und außerhalb ihres Herrschaftsgebietes durch, was die Unterstützung in der Bevölkerung stark untergräbt.

Ahmed Rashids Buch »Descent into chaos« gibt einen Einblick in die politische Entwicklung Zentralasiens, Afghanistans und Pakistans seit 9/11. Und dabei behandelt es – wie es die Auseinandersetzung mit dieser Region erzwingt – auch die Strukturen und das Vorgehen der dort aktiven transnationalen und nationalen terroristischen Vereinigungen. Allerdings erschöpft sich die Darstellung in Narrativen, ohne wissenschaftliche Behandlung der beschriebenen Phänomene.


Ahmed Rashid (2008): Descent into chaos. The United States and the failure of nation building in Pakistan, Afghanistan, and Central Asia. Viking Adult Verlag

Bild im Text von Cherie A. Thurlby, US, Army.

  • 1. Siehe verlinktes Video.
  • 2. Merkmale eines Partisanen nach Carl Schmitt.