Magazin Beitrag

Die Relevanz einer Debatte

Fragen an die Wissensgesellschaft
 <br/>Foto von cyberjausn
Foto von cyberjausn

Das Online-Lexikon Wikipedia ist eine Erfolgsgeschichte des Internets. Es hat die Utopie eines freien Zugangs zu Wissen für alle in die Tat umgesetzt und etablierte Lexika an Umfang und Nutzerzahlen in den Schatten gestellt. Mit der aufkommenden überfälligen Debatte um Relevanz von Wissen wächst dem Projekt sein Erfolg über den Kopf und stellt seinen offenen und demokratischen Anspruch in Frage.

Die Wikipedia ist keine Erfindung, sondern eher eine Entwicklung, da sich das Prinzip des direkten und offenen Zugangs gegen das Redaktionsprinzip durchsetzte. Dies war von den Entwicklern nicht unbedingt geplant. Zugleich ist die Wikipedia die Koppelung von Neuem und Alten. Das Prinzip der offenen Veränderung von Inhalten wurde verbunden mit dem Prinzip der Enzyklopädie – dem Anspruch, unter einem Eintrag alles Wissen zu einem Begriff oder Thema zu sammeln. Auch wenn es vorkommt, daß verschiedene Aufassungen zu Wort kommen, entspricht dies nicht unbedingt der Idee des Lexikons. Denn diese ist geprägt von der Vorstellung der Objektivität und der eindeutigen Definition. Die Struktur der Entscheidungsfindung entspricht eher dem Redaktionsprinzip als der offenen Veränderbarkeit.

Diese Koppelung von etwas Altem mit etwas Neuem mußte daher an ihre Grenzen stoßen oder aber eine neue Form entstehen lassen, die grundsätzliche Fragen aufwirft. Wäre die Wikipedia ein Nischenprojekt geblieben, wie so unzählige andere im Netz, diese Fragen wäre sicher nur in kleinem Kreis oder gar nicht aufgetaucht. Die Wikipedia ist sowohl ein Projekt von Laien als auch von Wissenschaftlern, allerdings ohne die Anforderungen ausreichend festzuschreiben oder zu kanonisieren. Welches Gremium oder welche Entscheider nach welchen Kriterien auch immer entscheiden mögen und wie diese Debatte, deren Anfang wir erst erlebt haben, immer auch ausfallen mag: Unter dem gegebenden Aufbau der Wikipedia bekommt deren Entscheidungsstuktur eine Macht, die sie selbst eher überrumpelt hat.

Die Macht der Entscheider

Foto von HelicoDiese Macht widerspricht erst einmal dem idealistischen Ansatz des freien Sammelns und Publizierens von Wissen. Denn sobald ein Eintrag einen größeren Einfluß in der öffentlichen Wahrnehmung bekommt, werden die professionellen Wahrer von Interessen nicht lange fern bleiben. Die Idee des freien Sammeln von Wissen geht an die Logik der Macht im öffentlichen Diskurs verloren.

Dies zeigt sich nun zuerst an der Intransparenz der Entscheidungsstrukturen der Wikipedia. Entgegen einer scheinbaren Freiheit der Nutzer wird das Redaktionsprinzip durch die Hintertür wieder einführt.

Die Objektivierung von Wissen wird durch ein doppeltes Monopol hergestellt. Erstens durch das Grundprinzip einer Enzyklopädie: Der Eindeutigkeit eines Eintrages. Abweichenden Meinungen wird kaum Gewicht beigemessen. Einige Platzhirschen entscheiden über den Wahrheitgehalt, ohne diesem eine Wissenschaftstheorie zugrunde zu legen. Die Vorstellung konkurrierender Einträge bei unterschiedlichen Auffassungen ist bis jetzt nicht aufgekommen. Der zweite Aspekt hat wenig mit der Wikipedia selbst zu tun als vielmehr mit der heutigen Struktur des Internets allgemein – der Monopolisierung von Netzprojekten und -unternehmen.

Verlust von Pluralität

Vergleicht man die klassischen Lexika mit der Wikipedia, so läßt sich ein Verlust von Pluralität feststellen. Der Aufwand der Sammlung universellen Wissen hat der Pluralität immer schon beschränkt. Dennoch ist erstaunlich, daß bis heute im Netz keine weiteren mit der Wikipedia an Relevanz vergleichbaren Projekte gibt, obwohl die reinen Kosten dafür erst einmal nicht in Gewicht fallen.

Die Geschichte des modernen digitalen Netzes ist mitlerweile eine der strukturellen Monopole. Neben der großen Suchmaschine und der großen sozialen Plattform ist diese Tendenz eben auch im nichtkommerziellen Bereich deutlich. Allerdings sind genau genommen zwei konträre Entwicklungen zu beobachten. Einerseits eine enorme Konzentration, welche die im vordigitalen Kapitalismus teilweise übertrifft und anderseits eine enorme Vielfalt des Angebots jenseits der Monopole. Während also das Netz der allgemeinen Medienkonzentration in wenige weltweite Konzerne Vorschub leistet, ist gleichzeitig eine enorme Ausdifferenzierung und Vielfalt des Angebots und des Zugangs zu Medienproduktion zu beobachten. Der Konzentrationsprozess überschreitet gerade mit der Wikipedia den kommerziellen Bereich.

Herausforderungen

Die Nutzer und Entwicklergemeinde der Wikipedia steht also vor zwei Herausforderungen. Zunächst die Frage, ob sie der Konzentration tatsächlich Vorschub leisten will. Gäbe es ein Kartellamt, das auch für Online-Lexika zuständig wäre, es hätte längst seine Alarmglocken schrillen lassen. Die fragwürdige Macht der Wikipedia steht in direktem Zusammenhang mit dem Mangel an Alternativen. Auf einem anderen Blatt steht die Frage, wie eine moderne Wissensgesellschaft neue Formen und Kriterien der demokratischen Wissensproduktion finden kann. Von Objektivität auszugehen unterschlägt, daß die Methoden und Kriterien von Wissen immer schon ein Ort von Auseinandersetzungen gewesen sind. Die symbolischen Kämpfe (heute »Edit-Wars«) um die richtige Deutung des Wissens sind so alt wie die Idee des Wissens selber.

Leider wird das große Online-Lexikon in der Gemeinde der professionellen Wissenschaftler eher belächelt. Erst das Zusammenwirken verschiedener gesellschaftlicher Kräfte wird diese Debatte fruchtbar machen und ihr eine Bedeutung über ein Projekt hinaus geben. Gerade aber die Kritik an der Qualität des offenen Sammelns von Wissen hat zu einer Kleinlichkeit in den Kriterien von Relavanz geführt – anstatt sich die komplexe Frage zu stellen, was eine wissenschaftliche Tatsache ausmacht.

Kommentare

Warum auch nicht belächeln?

‘Leider wird das große Online-Lexikon in der Gemeinde der professionellen Wissenschaftler eher belächelt.’ - Da hilft kein ‘leider’: Wikipedia wird bislang keinem wissenschaftlichen Anspruch gerecht, da führt auch der fanatische Editierwahn nicht dran vorbei. Zwar ist das Grundprinzip kostenloser Bildungsinhalte lobenswert, jedoch schaffen andere ebenfalls kostenlose Wissensmanagement-Instrumente das auf einem deutlich höheren Niveau. Die Blog-Landschaft hat Wikipedia schon lange überholt.