Magazin Beitrag

Der elitäre Kleinbürger

Zu Thilo Sarrazins Thesen
Der elitäre Kleinbürger
Bild von Björn Kietzmann

Nicht zum ersten Mal meldet er sich zu Wort, der ehemalige Berliner Finanzsenator und jetzige Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin. Und eines muss man ihm lassen: er hat ein Gespür für provokante Thesen, die ihm immer wieder große Aufmerksamkeit in den Medien verschaffen. Aber was will dieser Mann eigentlich, und worauf gründet sich sein Weltbild?

In seinem neuen Buch „Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ verkündet er erneut seine Standpunkte. Bisher ist lediglich die Einleitung – kostenlos – verfügbar, aber das große mediale und politische Echo lässt es geboten erscheinen, allein darauf gegründet eine Rezension zu verfassen. Es handelt sich dabei um ein buntes Potpourri aus wirtschaftlichen, politischen, biologistischen und nationalistischen Versatzstücken, garniert mit diversen Ausflügen in die Geschichte - übrigens durchaus lesbar geschrieben.

Gleich zu Beginn stolpert der Leser über solche Sätze wie: „Dieser Grundoptimismus und die Jahrzehnte des fast ungetrübten Erfolgs haben aber die Sehschärfe der Deutschen getrübt für die Gefährdungen und Fäulnisprozesse im Innern der Gesellschaft“ (Seite 7). Da mag sich mancher an Julius Streichers Sprachstil im nationalsozialistischen Kampfblatt Stürmer erinnert fühlen. Aber damit nicht genug der Biologismen. Denn wir erfahren auch, dass „wir als Volk an durchschnittlicher Intelligenz verlieren, wenn die intelligenteren Frauen weniger oder gar keine Kinder zur Welt bringen“ (9). So ist das also. Und damit ist auch geklärt, wo unser Hauptproblem liegt: Es „gefährdet vor allem die kontinuierliche Zunahme der weniger Stabilen, weniger Intelligenten und weniger Tüchtigen die Zukunft Deutschlands“.

Die Zweckmäßigkeit solcher biologistischer Denkmuster richtet sich natürlich danach, wohin die Reise gehen soll. Problematisch ist das jedenfalls schon deshalb, weil damit scheinbare Gesetzmäßigkeiten konstruiert werden, die so gar nicht bestehen. Oder woran liegt es, dass Kinder von „weniger Intelligenten“ (will vermutlich heißen: bildungsfernen Schichten) ebenfalls tendenziell geringer qualifiziert sind? Ist das mit dem Verweis auf genetische Merkmale schon erklärt? Wohl kaum, viel eher fehlt es in solchen Elternhäusern an intellektueller Anregung. Und dem wäre ja zumindest ansatzweise mit besseren und leichter zugänglichen Bildungsinstitutionen abzuhelfen. Davon will Herr Sarrazin aber nichts wissen. Vielmehr sieht er gerade in der Suche nach gesellschaftlichen Ursachen der sozialen Missstände ein wesentliches Übel unserer Zeit, denn dadurch wäre der Einzelne systematisch von seiner Eigenverantwortung entbunden worden: „Aus der soziologisch richtigen aber banalen Erkenntnis, dass in der Gesellschaft alles mit allem zusammenhängt, hat sich eine Tendenz entwickelt, alles auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zu schieben und so den Einzelnen moralisch und weitgehend tatsächlich von der Verantwortung für sich und sein Leben zu entlasten.“(10)

Durchgängig verweist der Autor auf das positive Gegenbild der „triumphalen späten fünfziger Jahre“ (16), in denen dank deutschem Fleiß eine Oase des Wohlstands und Wachstums entstand. Kein Wort freilich über den gesellschaftspolitischen Muff dieser Epoche. Offenbar lässt sich der Erfolg oder Misserfolg einer sozialen Ordnung vor allem an zwei statistischen Größen ablesen: der Geburtenrate und dem Wachstum des Bruttosozialprodukts.

Gerade angesichts der stark wirtschaftlichen Argumentation und dem beruflichen Werdegang Sarrazins verwundert es doch ein wenig, wie fahrlässig, ja grob verfälschend er mit ökonomischen Grundbegriffen umgeht. So konstatiert er, die Globalisierung habe „folgerichtig“ zu einer Stagnation der realen Stundenlöhne seit 1990 geführt. Tatsächlich ist für die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft aber nicht die Höhe der Stundenlöhne entscheidend, sondern die der Lohnstückkosten. Das bedeutet nichts anderes, als dass eine hohe Produktivität entsprechende Löhne ausgleichen kann. Wenn also beispielsweise in Deutschland ein Auto mit 20 Arbeitsstunden à 20 Euro montiert werden kann, ist das Endprodukt immer noch billiger als ein vergleichbares aus, sagen wir, Rumänien mit 100 Stunden à 5 Euro. Es ist ja auch keineswegs so, dass die gesamte Wirtschaftsleistung im genannten Zeitraum nicht gestiegen wäre. Aber dieser Zuwachs an Reichtum kommt eben nicht mehr bei der breiten Masse der Bevölkerung an. Das zeigen zahlreiche Studien zum Thema ganz eindeutig. Wir haben es hier also mit einer der üblichen Milchmädchenrechnungen der Neoliberalen zu tun, die mit Hilfe von unzutreffenden Vergleichen die Notwendigkeit von „Lohnzurückhaltung“ und Bescheidenheit suggerieren wollen.

Aber neben der verschärften internationalen Konkurrenz bemüht Sarrazin zur Begründung dieses Trends auch hier wieder seine argumentative Allzweckwaffe „demografischer Wandel“ (11). Die übrigens ebenfalls aus dem Arsenal des Neoliberalismus stammt. Doch auch das kann nicht wirklich überzeugen. Schließlich nimmt der Anteil der Rentner an der Gesamtbevölkerung dank medizinischem Fortschritt, besserer Hygiene und Ernährung zu, seit es die Rentenversicherung gibt: nämlich seit dem späten 19. Jahrhundert. Aber niemand käme deswegen auf die Idee, in dieser ganzen Phase eine stetige Wohlstandsabnahme erkennen zu wollen - auch nicht der Autor. Das liegt ebenfalls an der stetig wachsenden Produktivität, die sowohl die relative Abnahme der Berufstätigen als auch die Verringerung der wöchentlichen Arbeitszeit mehr als kompensiert hat.

Geradezu bizarr wirkt die Verbindung von Demografie und Klimawandel. Würde sich die Fortpflanzung der Deutschen (nicht zu verwechseln mit den deutschen Staatsbürgern türkischer Herkunft) im selben Maße wie heute noch 300 Jahre fortsetzen, gäbe es dann nur noch 3 Millionen davon. Das mag man nun bedauerlich finden oder nicht. Fragwürdig ist es in jedem Fall, eine statistische Momentaufnahme über einen solch langen Zeitraum in die Zukunft fortzuschreiben. Aber das eigentliche Kuriosum ist die Schlussfolgerung daraus: „Warum sollte uns das Klima in 500 Jahren interessieren, wenn das deutsche Gesellschaftsprogramm auf die Abschaffung der Deutschen hinausläuft?“ (18) Natürlich, wir verstehen: Für unsere Nachkommen in zehn oder fünfzehn Generationen lohnt es sich, das Klima zu schonen – für die aller anderen Völker aber nicht.

Der hier anklingende Nationalismus steigert sich freilich noch zu Aussagen wie dieser: „Ich glaube, dass wir ohne einen gesunden Selbstbehauptungswillen als Nation unsere gesellschaftlichen Probleme aber nicht lösen werden.“ (18) Man muss gar nicht 60 Jahre in der deutschen Geschichte zurückgehen, um ähnliche Thesen zu finden. Ein Blick in das Parteiprogramm der NPD genügt da völlig. Und so ist es auch kein Wunder, dass ebendiese braune Truppe Sarrazin herzlich willkommen heißt, wie auf tagesschau.de nachzulesen ist: „Der hessische Landesverband der NPD erklärte in einer Pressemitteilung, sie vertrete ‚genau die Positionen, die Sarrazin in seinem Buch niedergeschrieben hat’. Landesvorsitzender Jörg Krebs forderte Sarrazin auf: ‚Arbeiten Sie […] bei den Nationaldemokraten mit.’ Der sächsische NPD-Landtagsabgeordnete Jürgen Gansel zeigte sich erfreut über die Äußerungen Sarrazins: ‚Der Bundesbanker macht die Überfremdungskritik der NPD endgültig salonfähig’, sagte er.“

Was soll nun das Ganze? Droht hier etwa tatsächlich die Salonfähigkeit von solchen wirren Thesen, gar die Neuformierung einer starken Partei rechts der CDU? Man darf gespannt sein, wie es weitergeht. Nur eines ist sicher: Seit 90 Jahren hat die SPD wohl keinen derartigen Haudegen mehr in ihren Reihen gehabt. Wie schrieb doch der ob seiner skrupellosen Vorgehensweise berüchtigte Reichswehrminister Gustav Noske seinerzeit zu den ihm übertragenen Aufgaben: „Meinetwegen, einer muss der Bluthund werden.“ Nun also Sie, Herr Sarrazin?

 

Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. Erscheint am 30. August 2010 bei DVA.

Kommentare

…und wieder mal: ab ind ie

…und wieder mal: ab ind ie braune ecke…lachhaft, was hier wieder versucht wird.

Bild des Benutzers Axel Weipert

Widerspruch

Sicher wird der Verweis »in die braune Ecke« manchmal sehr vorschnell bemüht, einverstanden. Aber in diesem Fall besteht eben tatsächlich eine gewisse ideologische Nähe. Und das liegt sowohl an den von Sarrazin verwendeten Begrifflichkeiten, als auch an seiner Betonung der genetischen Prägung, verbunden mit wenig gesicherten pauschalen Aussagen über Türken und Muslime. Es ist ja schon bemerkenswert, dass die NPD - wie im Artikel belegt - seine Thesen sofort aufgegriffen hat und ihn in ihren Reihen sehen möchte.

Das hat dann eben nichts mit dem Erteilen von Denkverboten oder irgendwelchen Moralkeulen zu tun, sondern orientiert sich an den benennbaren Fakten.

T. Sarrazin

Hallo,

mit diesem Satz,:
„Dieser Grundoptimismus und die Jahrzehnte des fast ungetrübten Erfolgs haben aber die Sehschärfe der Deutschen getrübt für die Gefährdungen und Fäulnisprozesse im Innern der Gesellschaft“ (Seite 7).

hat er doch recht! Die Franzosen hatten vor gut 200 Jahren die richtige Antwort!
Unsere Oberschicht muss auch mal zittern.

MfG

G.S.

Wer kneift beide Augen zu?

Wer sich die Video-Serie »Thilo Sarrazin sagt die Wahrheit« auf Youtube ansieht, wird einsehen müssen, dass dringendster Handlungsbedarf besteht. Es muss sofort etwas getan werden und offenbar kann nur jemand wie Sarrazin das öffentliche Interesse auf die ewig totgeschwiegene Problematik lenken. Eine sachlichere Diskussion wäre mir auch lieber - aber lieber er als gar keiner.

Das ist keine Rezension - es ist wertloses Gewäsch

NIEMAND kann ernsthaft eine Rezension eines Buches verfassen, der lediglich die Einleitung gelesen hat. Dies umso mehr, da Einleitungen oft gezielt mit den Erwartungen des Lesers spielen, oft lediglich als Hinführung zum eigentlichen Thema dienen und/oder gewisse Themen des Buches auf eine besondere Art und Weise (in der Regel verkürzt) darstellen, um beim Leser etwas besonderes im Vorfeld zu erreichen. Diese Aufzählung ließe sich problemlos noch erweitern.

Anders gesagt: Wer eine Rezension ausschließlich auf die Einleitung gründet, hat entweder als Laie das Prinzip einer Rezension überhaupt nicht verstanden oder als Journalist seinen Beruf verfehlt.

Bild des Benutzers Axel Weipert

Antwort

Ich bin mir der Problematik durchaus bewusst, was ich ja auch geschrieben habe. Aber wer die Berichterstattung in den Medien verfolgt, kann diesen Vorwurf ja prinzipiell allen machen, die sich zu dem Thema bisher geäußert haben. Denn das Buch ist noch nicht erschienen (bis auf die Einleitung eben). Dennoch erschien es mir notwendig, in die Debatte einzugreifen, solange sie stattfindet. Und Sarrazin behandelt ja durchaus keine gänzlich neuen Themen; sowohl die prinzipiellen Standpunkte als auch sein spezifischer Blick sind ja im wesentlichen bekannt.

Im übrigen konzentriere ich mich ja auch auf das, was er selbst geschrieben hat - und zitiere ihn ganz bewusst mehrfach, damit sich der Leser ein eigenes Bild machen kann. Ich denke schon, dass sich Sarrazin auch an dem messen lassen muss, was er in seiner Einleitung geschrieben hat, gerade wenn er (bzw. sein Verlag) diese vorab und ganz bewusst auf Medienwirksamkeit ausgelegt publiziert.

Sie sind sich der Problematik eben nicht bewußt, ...

… denn sonst hätten Sie nicht die (ob nun medienwirksam publizierte, oder auch nicht) Einleitung als Aufhänger für Ihre Bewertung des gesamten Buches verwendet. Dies ist (bestenfalls!) journalistisch höchst schlampig gearbeitet; Hauptsache, man quetscht aus dem vorhandenen (und wenn medienwirksam, dann doch wohl bewußt provokant und verkürzt gehaltenem) Material so viel wie möglich heraus. Praktisch alle Schlußfolgerungen stehen dadurch aber auf äußerst wackligen Beinen und sind deshalb eben nichts wert.

In die Debatte einzugreifen - gut und schön, und völlig legitim. Aber dies auf der Basis einer solch spärlichen Datengrundlage wie einer Einleitung zu tun, ist und bleibt einfach nur Pfusch, und hat nichts, aber auch gar nichts mit einer seriösen Rezension DES GESAMTEN BUCHES zu tun.

Wobei natürlich klar ist, daß eine Rezension nur der Einleitung von allen Seiten mit einem einfachen Schulterzucken abgetan worden wäre…..

was soll man dazu sagen

nachdem die angebliche »judengen«-aussage ja nun seitens des herrn sarrazin nachweislich eine ente ist und offensichtlich mutwillig aus dem zusammenhang gerissen wurde, werden neue möglichkeiten zu diffamierung gesucht - hier der sprachliche duktus!

wenn die verwendeung einer phrase wie »fäulnisprozess innerhalb einer gesellschaft« o.ä. mit dem sprachgebrauch des »stürmers« verglichen wird, bitte ich doch darum, den sprachlichen duktus von reden großer sozialdemokraten der letzten 100 jahre zur gegenüberstellung zu nutzen. die begriffe volk, völkisch, verrottet etc. finden sich in texten von rudolf steiner, liebknecht, luxemburg aber auch spd-granden der nachkriegszeit bis hin zu einem finanzminister der letzten legislaturperiode!

kritisch müssen wir deutschen sein, aber nicht jede frau, die ihre erfüllung NICHT im büro sieht ist ein nazi und nicht jeder mann, der gerne hausmann ist, ist ein verkapter schwuler.

leider sind die meisten menschen wie pawlowsche hunde auf reizvokabeln dressiert und sind in der folge unfähig mündig zu eigenen einschätzungen zu kommen!

Bild des Benutzers Axel Weipert

Ja und Nein

Es ist zweifellos richtig, dass man derartige Sprachbilder bei zahlreichen Autoren, Rednern usw. der Jahrhundertwende und der 20er Jahre finden kann. Der Unterschied ist eben: Diese kannten den Nationalsozialismus noch nicht. Und wenn heute jemand eine solche Sprache gebraucht (egal, wer das ist), und zwar nicht nur »achtlos« oder unreflektiert beispielsweise in der Hitze der Debatte einer Talkshow, sondern sie in einem Buch niederschreibt: Dann muss man das kritisch sehen!

Ich habe ja auch keineswegs die Schlussfolgerung gezogen, Sarrazin strebe eine physische Vernichtung dieser gesellschaftlichen Gruppen an oder ähnliches - ich messe ihn lediglich an dem, was er eben tatsächlich geschrieben hat. Und das genügt meiner Meinung nach, um ihn klar rechts verorten zu können. Daran ändert dann auch sein Parteibuch nichts.

hmmm

zum einen kannten menschen aus den 50ern durchaus die NS-zeit und auch zu diesem zeitpunkt gibt es vergleichbare zitate von spdlern - zum anderen können vokabeln nicht aus dem sprachgebrauch gestrichn werden, nur weil sie »problematisch sein könnten«!

ein ganz plattes beispiel: wenn jemand ein arschloch ist, dann kann man das auch sagen und schreiben, denn arschloch ist ein illustriender begriff - nichtsdestotrotz ist er provozierend und zieht eine juristische konsequenz nach sich.

das problem hat herr sarrazin aus meiner sicht auch - er muß sagen können, dass ein bestimmtes verhalten / vorgehen eine bestimmte konsequenz hat - in diesem fall z.b. : lässt man bevorzugt »untere schichten« aus anderen ländern etc. in »sein« land, führt das zu entsprechenden konsequenzen. fördert man die bildungsuninteressierten unverhältnismäßig stärker als die gesellschaftstragende mittelschicht, dann hat auch das konsequenzen.

leider gibt es bei uns reflexe, die handlungsweisen wie z.b. in skandinavien unmöglich machen. alleine die schnelle reduzierung von arbeitslosengeld in DK bei unwilligkeit den wohnort zu wechseln wäre in D undenkbar.

eine diskussion über herrn sarrazin gäbe es in dieser form z.b. in frankreich oder den niederlanden nicht, obwohl es dort rechtspopulisten gibt, die wirklich dinge sagen und fordern, die herrn sarrazin hierzulande unterstellt werden!

ich habe meine jugend in besetzten häusern und in autonomen kreisen verbracht und da habe ich wirkliche nazis getroffen (und zwar auf beiden seiten der straßenschlacht!) - herr sarrazin ist ein wertekonservativer, kontinentaler europäer (amis würden »old europe« sagen), aber weit davon entfernt »rechts« zu sein.

ich habe nicht umsonst in meinem vorherigen beitrag formuliert, dass »… nicht jede frau, die ihre erfüllung NICHT im büro sieht ein nazi ist und nicht jeder mann, der gerne hausmann ist, ein verkappter schwuler ist«!

das ist schwer für uns, weil wir (ich bin jahrgang 67) schon in der schule gelernt haben auf bestimmte stichworte stereotyp zu reagieren, aber wenn wir nicht ewig äpfel mit birnen vergleichen wollen, müssen wir in der analyse von aussagen differenzierter sein.

das gefährliche an den nationalsozialisten ist doch in besonderer weise der zweite teil des wortes! das programm war bis auf die (nicht enthaltene) ethnische säuberung unangenehm dicht an zeitgenössischen programmen aus dem linken flügel!

naja, ich bin mal gespant, was ich als antwort bekomme, aber wenn mir etwas an diesen diskussionen »angst« macht, st es unsere unfähigkeit zur sachlichen auseinandersetzung - das ist eine eklatante schwäche!

Bild des Benutzers Axel Weipert

Erwiderung

Ja sicher darf Herr Sarrazin sagen können, was er möchte. Und ja, er muss dann eben die Konsequenzen tragen. Wenn er also auf diese Weise - und mit diesen Worten, die eben zur Darstellung der betreffenden Sachverhalte gar nicht nötig sind! - spricht respektive schreibt, dann habe ich das Recht, das als rechtslastig und wenig überzeugend bezeichnen zu dürfen. Im übrigen ist für mich rechts nicht gleich rechtsradikal (obwohl der Beifall aus dieser Ecke schon bemerkenswert ist); tatsächlich hat sich Sarrazin davon ja auch ausdrücklich abgegrenzt. Wohlgemerkt, nachdem ich den Artikel geschrieben habe, sonst hätte ich das natürlich auch erwähnt.

Es führt natürlich ein wenig vom Thema weg, aber den Satz »das ge­fähr­li­che an den na­tio­nal­so­zia­lis­ten ist doch in be­son­de­rer weise der zwei­te teil des wor­tes! das pro­gramm war bis auf die (nicht ent­hal­te­ne) eth­ni­sche säu­be­rung un­an­ge­nehm dicht an zeit­ge­nös­si­schen pro­gram­men aus dem lin­ken flü­gel!« kann man keineswegs so stehen lassen. Erstens sollte man nicht den Fehler machen, Programme mit der tatsächlichen Politik in eins zu setzen. Tatsächlich waren zum Zeitpunkt von dessen Veröffentlichung (1920) sozialistische Positionen in sehr vielen Parteien vertreten, und zum anderen wurden diese nie auch nur ansatzweise in die Realität umgesetzt nach der Machtübertragung. Man denke nur z.B. an die horrenden Profite der Rüstungsindustrie oder auch an das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit, das jegliche Mitbestimmung zugunsten der Unternehmer abschaffte.

Im übrigen bin ich vorsichtig bei Argumenten wie  »das muss man doch sagen dürfen« bzw. der Attitüde des mutigen Tabubrechers. Denn Meinungsfreiheit bedeutet eben nicht, dass jeder alles sagen darf. Zumindest nicht, ohne mit Widerstand rechnen zu müssen. Ich möchte jedenfalls nicht in einer Gesellschaft leben, die nach Herrn Sarrazins Vorstellungen eingerichtet ist… Das hat dann nichs mit pauschalen Denkverboten oder Stereotypen zu tun, sondern mit meinen Vorstellungen von Gesellschaft.

Noske und Sarrazin

Ich verstehe nicht, warum »Augenauf« so daherpoltert. Der Autor hat doch Eingangs klar gesagt, dass er keinesfalls »das ganze Buch«, sondern lediglich den Vorabdruck rezensiert, dass er beabsichtigt »al­lein dar­auf [auf den Vorabdruck] ge­grün­det eine Re­zen­si­on zu verfassen«. Es ist wohl das alte Spiel, wer nichts zu sagen hat, was stichhält, brüllt um so lauter.

Den Artikel fand ich übrigens sehr gut argumentiert und auch die Entgegnungen auf die Kommentare. Die Schuldprojektion eines bankrotten Systems auf die Unterschicht, die es hervorbringt, ist ganz klassisch; dass sie sich in ihrer Erklärungsnot rassistischer Ideologeme bedient ebenso. Selbst das Bild der »schlauen Juden« entstammt diesem Repertoire. Wer will kann's nachlesen, bei H. St. Chamberlain etwa, oder in reflektierter Form bei Sander Gilman.

Wenn Herr Sar­ra­zin »ein wer­te­kon­ser­va­ti­ver, kon­ti­nen­ta­ler eu­ro­pä­er« ist, heißt das noch lange nicht, dass er »weit davon ent­fernt [wäre] 'rechts' zu sein«. Andersherum wir ein Schuh daraus! Es lässt darauf schließen, wie wenig sich die Überzeugungsgrundlagen dieses Millieus von dem des »rechten« unterscheiden, wie »rechts« das im Grunde ist, was sich gerne »Mitte« nennt. Nicht von ungefähr fiel es der SPD historich nicht schwer, Freikorps und Thule die Hand zu reichen. Übrigens ist es völlig richtig, dass nicht nur auf Worte sondern Inhalte zu schauen ist, weshalb es hier wohl auch keinen Widerspruch hervorgerufen hat, dass Sarrazin in einem Kommentar selbst als die »gesellschaftliche Fäulnis« erschien, die er beschwört.