Magazin Beitrag

Tarifrunde 2012

Medizin für eine kränkelnde Volkswirtschaft

Die Zeichen stehen auf Sturm. Nachdem die Arbeitgeberseite trotz Warnstreiks bis dato noch nicht ernsthaft auf die Forderungen der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di eingegangen ist, droht dem Land nun ein zäher Arbeitskampf mit massiven Streiks im öffentlichen Dienst. Dabei sind die Forderungen der Arbeitnehmer nicht nur im Sinne der Frage eines gerechten Lohns gerechtfertigt, sondern stellen ein zwingend notwendiges Korrektiv für die Ungleichgewichte innerhalb der Eurozone dar. Da bei den Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst der Staat auf Seiten der Arbeitgeber verhandelt, könnte hier die Politik endlich ein Zeichen setzen, gelten die Verhandlungen doch auch als Vorlage für etliche Tarifverhandlungen, die in den nächsten Monaten anstehen.

Zumindest in einer Disziplin ist Deutschland zweifelsohne unschlagbar – in der Lohnzurückhaltung seiner Arbeiter und Angestellten. Während die Wirtschaft im letzten Jahrzehnt trotz des herben Rückschlags während der Finanzkrise 2008/2009 insgesamt um 12,6% wuchs, gingen die Reallöhne im gleichen Zeitraum um 2,9% zurück. Diese Lohnzurückhaltung blieb natürlich nicht folgenlos. Man muss an dieser Stelle überhaupt nicht die problematischen Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Volkswirtschaften überstrapazieren. Viel entscheidender ist in diesem Zusammenhang ein weiterer Effekt. Exportüberschüsse sind immer auch Importdefizite. Deutschland exportiert nicht nur zu viel, sondern importiert auch viel zu wenig Güter. Grund für die schwachen Importe ist die bescheidende Kaufkraft, die ganz direkt mit der unterdurchschnittlichen Lohnentwicklung zusammenhängt.

Gesamtwirtschaftlich kann ein volkswirtschaftliches Modell, das auf Lohnsenkungen basiert, nicht funktionieren. Jedes Produkt braucht einen Käufer, selbst Investitionen des Unternehmenssektors tragen sich schlussendlich nur, wenn am Ende der Kette jemand eine Dienstleistung oder ein Produkt einkauft. Nicht Investitionen, sondern Konsumausgaben sind die Triebfeder der Wirtschaft. Kurzgefasst könnte man diesen Zusammenhang mit dem bekannten Ford-Zitat „Autos kaufen keine Autos“ umreißen. Um den Wirtschaftskreislauf am Laufen zu halten, ist es daher auch unumgänglich, dass die Privathaushalte von Jahr zu Jahr mehr bzw. hochwertigere Güter und Dienstleistungen konsumieren. Das Maß der Lohnsteigerungen hängt dabei von der Preissteigerung und der Produktivitätssteigerung ab – liegen die Lohnsteigerungen unterhalb der Preis- und Produktivitätssteigerung, partizipieren die Arbeitnehmer in einem zu geringem Maße von der wirtschaftlichen Entwicklung. Dieses „Gürtel-enger-Schnallen“ wurde im letzten Jahrzehnt zur Regel.

Summiert man die Differenzen zwischen dem Verteilungsspielraum (also Produktivitäts- plus Preissteigerung) der letzten zehn Jahre, kommt man auf erschreckende 15,0%. Nur im Krisenjahr 2009 lag die Lohnsteigerung über dem Verteilungsspielraum, was sich damit erklären lässt, dass wir in diesem Jahr Deflation und eine – konjunkturbedingt – sinkende Produktivität hatten, die Löhne aber dennoch stiegen. Ein jeder kann sich vorstellen, wie unsere Volkswirtschaft aussähe, hätte es im letzten Jahrzehnt gesunde Lohnsteigerungen gegeben. Das Bruttoeinkommen jedes Beschäftigten läge in diesem Falle durchschnittlich 15,0% höher – was nicht nur einen gewaltigen Schub für die Kaufkraft, sondern auch für die Steuereinnahmen darstellen würde. Wenn man einmal grob über den Daumen peilt, dass 20% der zusätzlichen Löhne als Einkommensteuer abgeführt würden, käme man auf Mehreinnahmen in Höhe von 32,2 Milliarden Euro im Jahr 2011 – der Staat hätte also keine neuen Schulden aufnehmen müssen, wenn die Löhne in einem gesunden Maß gestiegen wären. Auch die Sozialsysteme würden von einer gesunden Steigerung profitieren, hängen die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung, der Pflegeversicherung, der Arbeitslosenversicherung und nicht zuletzt auch der Rentenversicherung doch direkt mit den Löhnen zusammen. Die Renten sind sogar direkt an die Lohnentwicklung gekoppelt. Wenn es denn eine „eierlegende Wollmilchsau“ der Volkswirtschaft gibt, so sind dies Lohnsteigerungen.

In einer freien Marktwirtschaft kann der Staat das Lohngefüge nicht bestimmen, es ist vielmehr Verhandlungsgegenstand der Tarifpartner. Eine Ausnahme von dieser Regel bilden jedoch die Tarifverhandlungen des öffentlichen Dienstes. Hier sitzt der Staat als Arbeitgeber mit am Verhandlungstisch. Es wäre wünschenswert, wenn der Staat in dieser Rolle einmal über den einzelwirtschaftlichen Tellerrand hinausblicken würde und sich seiner gesamtwirtschaftlichen Funktion bewusst wäre. Der Bundeshaushalt bietet mehr als genug Spielraum für Lohnerhöhungen. Die kommunalen Haushalte sind zwar in einer Dauerkrise, dies ist jedoch ein politisches Problem auf anderer Ebene, das nicht auf dem Rücken der Volkswirtschaft und schon gar nicht auf dem der Arbeitnehmer ausgetragen werden darf. Eine Steuerreform zugunsten der Kommunen ist längst überfällig – vollkommen unabhängig vom Ausgang der Lohnverhandlungen.

Leider wird auch bei der jetzigen Tarifrunde im öffentlichen mit missverständlichen Zahlenangaben operiert. Der verhandelte Tarifvertrag gilt für die kommenden zwei Jahre, die im Raum stehenden Angebote der Arbeitgeberseite beziehen sich somit auch auf zwei Jahre und müssen halbiert werden, will man sie mit Daten wie der Preissteigerung oder der Produktivitätssteigerung vergleichen. Mit der Ausgangsforderung von 6,5% für 12 Monate liegt ver.di jedoch deutlich über dem zu erwartenden Verteilungsspielraum. Nimmt man die aktuelle Inflation von 2,5% für 2012 und die EZB-Zielinflation von 2,0% für 2013 als Basis, muss man von einer Preissteigerung von 4,55% ausgehen. Die prognostizierte Produktivitätssteigerung für 2012 beträgt 1,0% (Sachverständigenrat) und für 2013 1,3% (EU-Kommission) – macht zusammen 2,31%. Bei einem zweijährigen Tarifvertrag wäre auf Basis dieser Zahlen somit ein Verteilungsspielraum von 7,06% vorhanden. Das aktuelle Angebot der Arbeitgeber liegt mit 3,3% (1,77% pro Jahr) sogar noch unter der Preissteigerung und stellt somit einen Reallohnverlust dar. Dies ist natürlich vollkommen indiskutabel.

Man kann daher auch aus volkswirtschaftlicher Sicht nur hoffen, das ver.di Rückgrat beweist und für seine Forderungen kämpft. Dies ist natürlich mit Nachteilen für die Bevölkerung verbunden. Es ist nicht schön, wenn der Müll nicht abgeholt wird, die Kitas geschlossen haben und die Busse ausfallen. Dies ist jedoch nur ein kleiner Preis, den wir alle zu zahlen bereit sein sollten, da ein gesunder Lohnabschluss ja auch uns allen zugute käme. Sollten Sie dennoch das Verlangen verspüren, sich über den Streik zu beschweren, dann wenden Sie sich doch an Ihren Bürgermeister oder Ihren Bundestagsabgeordneten und sagen ihm, dass er ein wenig Druck auf die Verhandlungsführer der Arbeitgeberseite machen soll, so dass der Streik möglichst schnell im Sinne der Allgemeinheit beendet werden kann.