»diszipliniert und bestraft«
Für den Deutschlandfunk hat Reiner Scholz Betroffene, Behörden und Kritiker der deutschen Arbeitslosenverwaltung zu ihrer Meinung befragt. Herausgekommen ist dabei eine durchaus differenzierte Bestandsaufnahme. Von der Angst um die bloße Existenz ist die Rede, aber auch von Behördenwillkür, überlasteten Mitarbeitern und mangelnden Perspektiven. Etwa zehn Jahre nach der Einführung der sog. Hartz-Gesetze ist jedenfalls klar, dass die Reform daran gescheitert ist, Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen. Selbst Peter Hartz meinte schon 2007: »Herausgekommen ist ein System, in dem die Arbeitslosen diszipliniert und bestraft werden.« Man mag sich freilich darüber streiten, ob nicht genau das - und eben nicht die Hilfe für die Erwerbslosen - der eigentliche Zweck der Neurordnung war.
Im Jobwunderland
Kanzlerin Merkel ist sich mit ihren Ministern einig: In Deutschland findet gerade ein Jobwunder statt, die Lage ist rosig. Doch was versteckt sich hinter den Erfolgsmeldungen vom Arbeitsmarkt? Panorama stellt drei Menschen vor, die den Zahlen ein Gesicht geben. Eine Wissenschaftlerin, die sich von Befristung zu Befristung hangelt, ein scheinselbstständiger Bauarbeiter und ein Feinmechaniker in der Leiharbeit. Sie arbeiten unter unterschiedlichen Bedingungen, aber doch alle prekär. Eine langfristige Lebensplanung ist so nicht möglich. Ja, mehr noch: Krankheiten werden aus Angst vor Kündigung nicht behandelt, die Familie leidet mit. Dass die Bezahlung meist eher gering ist, versteht sich fast von selbst. Über acht Millionen untypische Beschäftigungen gibt es hierzulande, davon fast eine Million Leiharbeiter. Und die Tendenz steigt, denn rund 75 Prozent aller neuen Stellen werden in diesen Bereichen geschaffen.
Frage der Perspektive
So viele Arbeitsplätze wie nie zuvor! So wenig Arbeitslose wie seit 20 Jahren nicht mehr! Das verkündet die aktuelle Statistik zum Arbeitsmarkt. Parallel dazu verbreitet das Wirtschaftsministerium zahllose Plakate mit dem etwas plumpen Aufmacher »Danke, Deutschland!« Freilich ist das alles vor allem eine Frage der Interpretation. Denn gleichzeitig boomt vor allem die Teilzeit- und Leiharbeit, viele Arbeitslose verschwinden nur aufgrund statistischer Tricks aus der Berechnung. Das Arbeitsvolumen dagegen ist seit 2001 sogar zurückgegangen. Und die Reallöhne hinken der allgemeinen Entwicklung hinterher. Die Politik der letzten Jahre ist also kaum als Erfolg zu werten, wie das vielfach geschieht, meint Ulrike Herrmann:
Diese Groß-Erzählung wird nicht nur von der schwarz-gelben Regierung betrieben. Sie ist genauso beliebt bei vielen Sozialdemokraten und Grünen, die ja unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder die Hartz-Reformen erfunden haben. Gegen dieses parteiübergreifende Kartell der Schönfärberei ist schwer anzukommen. Deswegen sei es - noch einmal - gesagt: Nein, Hartz IV hat gar nichts gebracht. Die Zahl der Arbeitsstunden ist nicht gestiegen; es wurde keine neue Beschäftigung geschaffen. […] Die Hartz-Reformen haben keine Beschäftigung geschaffen, dafür aber die Verhandlungsmacht der Beschäftigten beschnitten. Nirgends lässt sich dies besser sehen als bei den Reallöhnen, die zwischen 2000 und 2010 nur um insgesamt 4,4 Prozent gestiegen sind. Die Wirtschaft hingegen wuchs gleichzeitig um 9,7 Prozent, so dass also der größte Teil des Zugewinns an die Kapitaleigner gegangen ist, an die Unternehmer und Aktionäre.
»Fünf Millionen arbeitslose Untertanen«
Tief gefallen ist der Mann. Gestürzt nicht wegen seines großen Projekts, sondern wegen Bestechung und unappetitlichen Sexreisen. Nach wie vor ist er davon überzeugt: Er hätte das Problem der Arbeitslosigkeit – sein »Lebensthema« – lösen können. Hätte man nur auf ihn gehört.
Heute beschäftigt sich Hartz noch immer mit seinem großen Ziel. Er liefert jetzt den »totalen Arbeitsmarkt«, nebenbei gibts mittags Carpaccio vom Rind mit Trüffelspänen. Gerhard Schröder hält ihn für einen Idealisten. Er sich selbst übrigens auch. Willkommen in der Welt des Peter Hartz.
Berechnend berechnet
Kürzlich stellte die Bundesagentur für Arbeit die aktuellen Arbeitslosenzahlen für den Mai 2011 vor und verkündete weniger als 3 Millionen Arbeitslose. Gerd Bosbach, Professor für Statistik an der Fachhochschule Koblenz, erklärt dazu im Deutschlandradio Kultur, wie die monatlichen Arbeitslosenstatistiken geschickt verglichen und geschönt werden. So zählen etwa 58-Jährige Arbeitslose, die über ein Jahr kein Angebot bekommen haben, nicht zu den genannten 2,96 Millionen Arbeitslosen. Auch Menschen, die sich in Weiterbildungsmaßnahmen befinden oder privaten Arbeitsvermittlern übergeben wurden, werden nicht eingerechnet.
Am Tor zur Sonne
Gerade der Süden Europas ist von der Eurokrise schwer getroffen. Neben Griechenland und Portugal leiden auch Spanien und Italien unter strukturellen Problemen. Insofern ist es wenig erstaunlich, wenn Proteste ausbrechen, die sich in Symbolik und an Radikalität an den Aufständen auf der anderen Seite des Mittelmeeres orientieren. Eine solche Entwicklung zeichnet sich nun in Spanien ab, wo Tausende vor allem junge Menschen den Puerta del Sol-Platz besetzt halten. Die Demonstranten kritisieren die hohe Jugendarbeitslosigkeit, stellen aber auch das politische System in Frage. Ralf Streck sieht auf Telepolis jedoch in den Protesten keine reine Jugendbewegung, sondern einen gesamtgesellschaftlichen Unmut. Er rechnet mit einem Übergreifen der am Sonntag gestarteten Bewegung auf das benachbarte Portugal, wo Demonstrationen bereits den Ministerpräsidenten zum Rücktritt zwangen. In den deutschen Massenmedien ist, darauf weist der Blog le bohémien hin, der Protest bislang verschlafen worden. Auf der Seite findet sich auch ein Nachrichten-Ticker.
Ohne Zukunft
Eine Studie des gewerkschaftlichen Wirtschaftsforschungsinstituts WSI kommt zu dem Ergebnis, dass jüngere Arbeitnehmer überdurchschnittlich oft zu schlechten Bedingungen beschäftigt sind. So sind sie von Arbeitslosigkeit, befristeten Verträgen oder Leiharbeit besonders betroffen. Zudem absolvieren sie zunehmend schlecht oder gar nicht bezahlte Praktika, die ihnen kaum Perspektiven eröffnen. Und 40 Prozent aller Azubis werden nach ihrer Lehre nicht übernommen. Dies alles führt auch zu zunehmenden gesundheitlichen und psychischen Belastungen.
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