Presseschau Beitrag

»Neosowjetismus«

Die Paradoxien der Ära Putin
Symbol der postsowjetischen Zeit: Eine der Jachten des Roman Abramowitsch <br/>Foto von foxypar4
Symbol der postsowjetischen Zeit: Eine der Jachten des Roman Abramowitsch Foto von foxypar4

Wladislaw Inosemzew versucht in der Le Monde diplomatique eine Beschreibung der Ära Putin. So sieht er in der autoritären quasi-Einparteienherrschaft und der Abhängigkeit vom Rohstoffexport eine Parallele zur Sowjetunion: »Gleichzeitig ist das heutige Russland radikal anders als die Sowjetunion. So erschreckend das Regime in vielerlei Hinsicht ist, so herrscht es doch über ein paradoxerweise freies Land.« Der Energiereichtum hat es ermöglicht, ein Stillhalten der Bevölkerung zu erkaufen; somit ist Rußland ein klassischer Rentierstaat.

Zudem ließ man nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Millionen kritischer Bürger auswandern. Ohne diese kritische Opposition prägen die bizinesmen, Geschäftsleute und die Silowiki, Sicherheitseliten, das Wertegefüge des Landes; eine Elite, die durch Materialismus und Korruption geprägt sei:

Der russischen Regierung gelang es damit, eine Herrschaftsform zu etablieren, von dem seine kommunistischen Vorgänger nicht einmal zu träumen wagten. Der Lebensstandard der Beamten hat sich verbessert. Freie Wahlen wurden de facto ebenso abgeschafft wie das Streik- und Demonstrationsrecht. Die Justiz wurde der Bürokratie gefügig gemacht.

In diesem Kontext –  einem Verständnis des postsowjetischen Rußland der vergangenen 20 Jahre – ist ein Beitrag von Keith Gessen über den Aufstieg des Oligarchen Michail Chodorkowski lesenswert. Skrupellos und clever machte er sein Vermögen mit seiner Bank Menatep, bevor er mit anderen Oligarchen dem Staat unter Jelzin dank dessen Finanznot die lukrativen Rohstoff- und Energieunternehmen abluchste. Ebenso skrupellos versuchte Putin, die Macht den Oligarchen zu entreißen, indem er ihnen »ein paar Busladungen maskierter Männer mit Automatikgewehren« schickte. Die Auseinandersetzung zwischen Putin und Chodorkowski war ein Stellvertreterkonflikt zweier Eliten:

In westlichen Berichten wird oft übersehen, dass es dem Kreml im Fall Chodorkowski nicht nur um die Bestrafung wegen illegaler Bereicherung geht, sondern auch um den Kampf gegen eine kriminelle Organisation. Das Putin-Regime hat seine Legitimität von Anfang an dadurch bezogen, dass es angeblich das Chaos und den Zusammenbruch der Institutionen bekämpfte. Deshalb brachte man die Person Chodorkowski immer wieder und systematisch mit den größten Übeln der Jelzin-Ära in Verbindung.