Magazin Beitrag

In der Mitte klaffen drei Löcher

Eine Analyse der Bundestagswahl und die Perspektiven
Historische Wahlergebnisse
Historische Wahlergebnisse

Diese Bundestagswahl ist - gerade oder obwohl der Wahlkampf so unspektakulär war - eine der denkwürdigsten in der Geschichte der Bundesrepublik.  In ihrer Mitte klaffen drei große Löcher: Die Sozialdemokraten, die »großen« Parteien insgesamt und die geringe Wahlbeteiligung. Gewonnen hat die Wahl eigentlich niemand, denn sie wurde durch die geringe Wahlbeteiligung entschieden. Die SPD konnte ihre Wähler nicht mobilisieren.

Allerdings verliert diese Partei weit mehr als nur die Stimmen der Nichtwähler. Die Sozialdemokratie hat sich von 1998 bis 2009 praktisch halbiert. Die Erdrutsch-Niederlage von Minus 11,2%  liest sich um so dramatischer, wenn man berücksichtigt, daß das Ergebnis von 2005 bereits ein Minus von 6,7% zu 1998 bedeutete.

Insgesamt jedoch verlieren auf lange Sicht beide große Parteien - falls man sie noch als groß bezeichnen darf - fast gleichmäßig an Zuspruch. Verglichen mit der ersten erfolgreichen Wahl von Helmut Kohl 1983 haben CDU und SPD jeweils fast genau 15% Stimmenanteil verloren. Damit haben die Volksparteien ihre klare führende Rolle verloren. Sie erreichen keine Polarisierung mehr durch unterschiedliche gesellschaftliche Positionen, insbesondere weil die SPD sich entsozialdemokratisiert hat. Am deutlichsten wird der Trend in Berlin. Dort erringen SPD und CDU ähnlich viel Stimmen wie die Linken und die Grünen - nur die FDP ist leicht abgeschlagen bei einem für ihre Verhältnisse immer noch komfortablen Ergebnis.

Das Ende der alten Bundesrepublik

Auch wenn das Ergebnis ein extremer Ausschlag in eine Richtung sein sollte, ist es das Ende der alten Bundesrepublik und ihrer ungeschriebenen Gesetze der politischen Landschaft. Trotz mehr als ein Drittel der Stimmen für die kleinen Parteien kommt ein Experiment wie der parlamentarische Arm der Datenschutz-Bürgerrechtsbewegung der Piratenpartei auf 2% der Stimmen aus dem Stand. Das ist besser als die Grünen bei ihrer ersten Bundestagswahl 1980, auch wenn zweifelhaft bleibt, ob Platz im parlamentarischen System für einen sechste Partei ist. Sie zeigt jedoch auf, daß die etablierte Politik es nicht schafft, die jüngere Wählergeneration an sich zu binden.

Die Sozialdemokratie hat in Deutschland gleich an mehrerer Fronten verloren. Die wichtigste ist erstens sicher die Politik Gerhard Schröders, der mit einer Sozialpolitik wie der flächendeckenden Einführung von Zeitarbeit dem Kernklientel der Partei einen Schweren Stoß versetzt hat. Schröder hat seine ursprüngliche Ansage jedoch eingehalten: Arbeit schaffen um jeden Preis, und sei es der eigene Untergang und die Verarmung breiter Teile der arbeitenden Bevölkerung. Die Partei hat es zweitens allerdings versäumt, sich nach der Kanzlerschaft Schröders und seiner unfreiwilligen Stärkung der PDS/Die Linke neu aufzustellen. Eine klare Distanzierung von Schröders Politik wäre zu diesem Zeitpunkt möglich gewesen. Allerdings fehlte es dem linken Flügel an Führung und Einfluß in Berlin, so daß Kurt Beck von den konservativen Schröderianern in der Regierung weggemobt werden konnte - von Politikern wie Frank-Walter Steinmeier, die sich ihr Programm von McKinsey schreiben lassen.

Drittens hat die SPD eine machtstrategische Sackgasse betreten, indem sie keine klare Bündnisoption mit der Linken anstrebt. Eine Partei, deren beste Alternative es zu sein scheint, Juniorpartner in einer großen Koalition von Merkels Gnaden zu sein, ist tatsächlich wenig wählbar. Da es sich bei der Linken keineswegs um Kommunisten handelt, sondern da sie vielmehr den linken Flügel des sozialdemokratischen Wählerspektrums repräsentiert, entspricht dies einer Haltung, in der die CDU nicht mit der FDP koaliert, weil diese ihr zu marktradikal ist.

Daher kommt diesem Moment nach der Wahl eine entscheidende Bedeutung für die weitere Entwicklung der Partei zu. Wenn zu diesem Zeitpunkt die parteiinterne Opposition keinen Aufstand gegen Steinmeier und Konsorten bewerkstelligt kriegt, wird das den weiteren Niedergang der Partei zu Folge haben und eine strategische Position Rot-Rot-Grün in weite Ferne rücken.

Denn ein solches Bündnis müsste auch ideologisch und programmatisch vorbereitet werden, soll es eine erfolgreiche politische Konstellation sein. Wenn eine Palastrevolte in der SPD nun scheitert, kann in der Bundesrepublik auf absehbare Zeit kein Lagerwahlkampf geführt werden - mit der Konsequenz der weiteren Verödung der öffentlichen Debatte und politischen Landschaft.

Der lange Schatten der roten Socken

Diese Sackgasse hat die SPD bereits in der Zeit von Roten-Socken-Kampagnen  der CDU in den 90er Jahren betreten. Während die CDU munter die Systempartei und Blockflöte Ost-CDU schluckte, was auf ungefähr einem Zusammenschluss von SPD und PDS gleichgekommen wäre, versuchte sie gleichzeitig auch nur eine Koalition der beiden Parteien auf Bundesebene mit einer Neuauflage der SED gleichzustellen. Schon zu diesem Zeitpunkt hatte die SPD dieser taktisch motivierten ideologischen Linie wenig entgegenzusetzen, sondern machte sich das Gebot, nicht mit der PDS zu koalieren, zu eigen. Eine Linie, die bis in den jüngsten Hessenwahlkampf und in die Bundestagswahl durchschlägt. Der Versuch, dem Problem durch Marginalisierung der PDS entgegenzuwirken, ist spätestens mit den Hartz-IV-Reformen gescheitert - ohne eine alternative Strategie. Neben dem längsten Schatten, den Socken so haben können, hat die SPD das Trauma, ihren linken Flügel und somit ihre politische Wurzeln zu verlieren, noch nicht überwunden.

Gleichwohl geht die Bedeutung des Niedergangs der SPD weiter: Sie stand für den sozialen Frieden oder Klassenkompromiß, der das Fundament der westdeutschen Bundesrepublik darstellte. Mit einer Mischung von Wiederaufbau der Wirtschaft nach dem Krieg, harten sozialen Kämpfen und einer Kompromißbereitschaft der bürgerlichen Besitzenden anhand des kalten Krieges, ging der sozialdemokratische Traum in Erfüllung: Wohlstand für breite Bevölkerungsschichten ohne klassenkämpferischen und revolutionären Pathos, gewissermaßen eine Verbürgerlichung der Arbeiterklasse.

Die Rolle der SPD in der alten BRD

Daß dies auf einer besonderen historischen Konstellation beruhte und mit Ende des Kalten Krieges immer weiter ins Rutschen geriet, nahm das Führungspersonal der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften lange Zeit nicht zur Kenntnis. Der reelle Kaufkraftverlust des sozialdemokratischen Kernklientels ist jedoch auch ein Grund für die aktuelle Wirtschaftskrise. In der SPD mangelt es an Führungsfiguren und einer intellektuellen Basis, um der in Deutschland vorherrschenden Angebotsorientierung und dem Monetarismus etwas entgegenzusetzen. Daher wird vor allem für einen symbolischen Erhalt von Industriearbeitsplätzen wie bei Opel gekämpft.

Daß allerdings jenseits von Symbol- und Ankündigungspolitik kein programmatisches Fundament für wirtschafts- und sozialpolitische Konzepte vorhanden ist, spürt auch der Wähler und verweigert der SPD den Zuspruch. Dabei handelt es sich jedoch nicht unbedingt um ein »linkes« Anliegen, denn eine Stärkung der ärmeren Bevölkerung würde auch Rückwirkung auf die Lohntüten der schwächelnden Mittelschicht haben. Zudem hätte die Stärkung einer qualitativen Nachfrage im wirtschaftlich stärksten Land Europas auch Rückwirkung auf die Binnenkonjunktur und würde die Wirtschaft beleben. Letztlich ist die viel gerühmte Exportweltmeisterschaft Deutschlands zugleich eine mangelnde Binnennachfrage.

Perspektiven in der Krise

Da diese strukturellen Probleme ebenso ungelöst sind wie eine neue Regulierung der Finanzmärkte und der Weltwirtschaft in Aussicht stehen, und zugleich die Kapitalverwertungskrise ebenso wenig überwunden ist wie die faulen Kredite der Banken offengelegt, ist von einem Intensivierung der Wirtschaftskrise in der kommenden Legislaturperiode auszugehen. Die große Koalition hat ein erfolgreiches Krisenmanagement simuliert und den Wähler in eine trügerische Sicherheit gewogen. Daß ausgerechnet die FDP von der Krise des Neoliberalismus profitiert, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.

Die sich abzeichnende Konstellation für die schwarz-gelbe Koalition wird zunächst das Eingeständnis sein, die angekündigten Steuerkürzungen nicht umsetzen zu können. Um jedoch ein wenig des Wahlprogramms und der eigenen Glaubwürdigkeit retten zu können, wird die Koalition um Sozialkürzungen nicht umhinkommen. Das Resultat wird eine wachsende soziale Polarisierung sein, die die SPD in die Arme der Linken treibt. Ob sie sich dadurch erholen kann, wird daran liegen, ob sich der linke Flügel in der SPD drurchsetzt und diesen Prozess aktiv gestalten kann anstatt wie in der Vergangenheit nur wie ein Floß im Strom zu rudern. Wenn die Wirtschaftskrise mit Arbeitslosigkeit und Rezension oder schwachen Wachstum seine ganze Wirkung entfaltet, wird die Situation für die schwarz-gelbe Koalition sehr schwierig werden. Soziale Kämpfe und offene Auseinandersetzung wie in Griechenland sind daher nicht unwahrscheinlich. Da die CDU in der großen Koalition der Seniorpartner war, kann die Schuld nicht einfach auf die letzte Regierung geschoben werden.

Da marktliberale Konzepte das völlig falsche Rezept dieser Zeit sind und soziale Konflikte bevorstehen, scheint äußerst fraglich, ob die Koalition die Legislaturperiode übersteht. Diese Zeit wird jedoch über die Zukunft der politischen Konstellation der Bundesrepublik entscheiden.


Bild im Text von Joachim S. Müller.