Magazin Beitrag

Griff nach der Weltmacht

Eine Kontroverse spaltet die Republik
Schützengraben im Ersten Weltkrieg
Schützengraben im Ersten Weltkrieg Bild von Jens-Olaf

Dieses Buch hatte es wirklich in sich, löste es doch eine der heftigsten und langwierigsten Debatten in der deutschen Nachkriegsgeschichte aus. Fritz Fischers Werk „Griff nach der Weltmacht“ rührte unverkennbar an einen wunden Punkt im deutschen Selbstbild. Und das keineswegs nur unter Fachleuten, auch die breite Öffentlichkeit nahm regen Anteil an dem Streit um die Frage: War Deutschland verantwortlich für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs? Auch fünfzig Jahre nach der Erstveröffentlichung lohnt sich ein Blick zurück auf die Auseinandersetzung.

Bermerkenswerterweise drehte sich die Diskussion von vornherein eigentlich nur um ein Randthema des umfangreichen Werkes, nämlich die ersten beiden Kapitel. Darin wird die deutsche Politik und Diplomatie in der Zeit vor Ausbruch der Kämpfe beschrieben. Der größte Teil von Fischers Buch beschäftigt sich dagegen mit den deutschen Kriegszielen während des Konflikts, die zwar gewissen taktischen Modifikationen unterworfen waren, aber dennoch in ihren wesentlichen Punkten gleich blieben - trotz wiederholten Stühlerückens in der Regierung und trotz des wechselhaften Kriegsglücks.

Warum führt man einen Krieg?

Natürlich hatten die einzelnen Interessengruppen durchaus verschiedene Vorstellungen davon, wie eine für das Deutsche Reich günstige Nachkriegsordnung aussehen sollte. Die Schwerindustriellen an Rhein und Ruhr beispielsweise waren besonders am französischen Erzbecken von Longwy-Briey interessiert. Oder, wie es der Stahlfabrikant Albert Vögler gegenüber dem Reichskanzler formulierte: „Für den Erwerb von Briey würden wir 10 Jahre länger Krieg führen.“ Andere traten eher für eine gemäßigtere Annexionspolitik ein und wollten stattdessen lieber eine Zoll- und Wirtschaftsunion unter deutscher Vorherrschaft in Europa errichten. Gewisse Parallelen zu heutigen Institutionen können da durchaus zu denken geben. Selbst die vorgeblich so friedliebende SPD trat in Teilen übrigens ebenfalls für Eroberungen ein. Im Einzelnen umfassten die innerhalb der Eliten diskutierten Ziele im Westen Annexionen in Nordfrankreich und Belgien. Im Osten sollten aus der Konkursmasse des Zarenreiches entweder deutsche Satellitenstaaten gebildet oder weite Gebiete direkt dem Reich einverleibt werden. Weitere Kolonien in Afrika sollten ebenfalls dazugehören, genauso wie umfangreiche Reparationszahlungen der besiegten Gegner. Übergeordnetes Ziel war in jedem Fall der Aufbau einer deutschen Weltmachtstellung.

Offiziell befand sich das Kaiserreich freilich in einem Verteidigungskrieg, der ihm von seinen Feinden aufgezwungen worden sei. Schon länger sprachen Militärs und Politiker von einer angeblichen „Einkreisung“ Deutschlands: Der Erbfeind Frankreich im Westen, der „russische Koloss“ im Osten und Großbritannien als Herr der Meere sähen voller Neid und Mißgunst auf die deutschen wirtschaftlichen Erfolge. Diese grundlegende Haltung verband sich in der Julikrise 1914 mit diplomatischem Geschick, sodass in der Öffentlichkeit der Eindruck entstand, Russland sei der wahre Aggressor. Auf diese Weise konnte auch die keineswegs kriegsbegeisterte Arbeiterschaft ruhig gehalten werden. Das vielzitierte Augusterlebnis, also der patriotische Überschwang bei Kriegsausbruch, blieb nämlich weitgehend auf das Bürgertum beschränkt. Die Arbeiterbewegung hatte dagegen noch unmittelbar zuvor große Friedensdemonstrationen abgehalten und suchte sogar die Verständigung mit den französischen Genossen. Diese Initiativen brachen jedoch abrupt ab, als die Mobilisierung anlief und der Kaiser pathetisch ausrief: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“

Deutsche Schuld

Doch zurück zu Fritz Fischer. Er wies anhand zahlreicher Dokumente nach, dass die deutsche Reichsleitung sehr wohl an einer Eskalation der diplomatischen Krise interessiert war. Nach der Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers in Sarajevo durch eine serbischen Nationalisten war es zu ernsten Spannungen zwischen diesen beiden Ländern gekommen. Deutschland als wichtigster Verbündeter der Habsburger deckte nun deren aggressives Vorgehen gegen Serbien – ja, mehr noch: es drängte Wien geradezu, einen Krieg vom Zaun zu brechen. Aufgrund der bestehenden Bündnisse und Interessenlagen musste so aber eine fatale Kettenreaktion in Gang kommen, die einen großen europaweiten Konflikt zur Folge hatte. Deshalb, bilanzierte Fischer, „trägt die deutsche Reichsführung den entscheidenden Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges.“ Diesen Vorwurf erhärtete er später durch weitere Forschungen, v.a. in seinem zweiten Buch „Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911 bis 1914.“ Es sei von deutscher Seite schon länger ein solcher Krieg geplant worden, seine überaus aggressive Außenpolitik steuerte zielstrebig darauf zu. Dementsprechend wurden auch zahlreiche Chancen, das Kriegsrisiko schon im Vorfeld zu verringern, bewusst zunichte gemacht.

Ihre Brisanz erhielten diese Thesen aus dem Umstand, dass bis dato innerhalb der Historikerzunft genau das Gegenteil angenommen wurde – jedenfalls in der BRD, in der DDR hatte man schon aus ideologischen Gründen scharfe Kritik an der Politik des Kaiserreiches geübt. Im Westen herrschte jedoch eine andere Sicht auf die Ereignisse. Demnach sei der Krieg weder geplant noch sein Ausbruch vom Deutschen Reich forciert worden. Sein Ausbruch erschien so als allgemeines Unglück, in das die Großmächte wider Willen hineingeschlittert seien. Man schloss sich also recht unkritisch den offiziellen Äußerungen der ehemaligen Reichsführung an. Das geschah auch vor dem Hintergrund, dass nach der Niederlage im Friedensvertrag von Versailles Deutschland und seinen Verbündeten die Alleinschuld zugeschoben wurde. Damit begründeten die Sieger nicht nur die Gebietsabtretungen, sondern auch die deutsche Verpflichtung zu umfangreichen Reparationen. All das wurde – mit wenigen Ausnahmen – damals als nationale Schmach empfunden. Nicht zuletzt Hitler nutzte dann diese Verbitterung, um seine Revanchegedanken populär zu machen.

Die westdeutschen Historiker taten sich mit Fischers Standpunkt lange schwer. Anfang der 60er-Jahre waren sie in ihrer Mehrheit prononciert konservativ orientiert, was auch und in besonderem Maße für Gerhard Ritter galt, den wichtigsten Gegenspieler Fischers. Auf dem Historikertag 1964 übten diese während einer mehrstündigen Redeschlacht heftige Kritik an dem vermeintlichen „Nestbeschmutzer“. Dennoch setzten sich seine Thesen später weitgehend durch, sein Werk wurde in zahlreichen Auflagen bis heute immer wieder neu gedruckt. Und nicht nur das: Angeregt durch seine Forschung entstanden im Lauf der Jahre zahlreiche weitere Arbeiten, die sich mit der Materie auseinandersetzten. Vor allem der internationale Kontext wurde weiter ausgeleuchtet, hatte sich Fischer doch fast ausschließlich mit der deutschen Politik beschäftigt. Nicht ganz zu Unrecht wurde ihm daher eine zu einseitige Sichtweise vorgeworfen. Darüber hinaus betonten jüngere Wissenschaftler wie etwa Hans-Ulrich Wehler nun neben der außenpolitischen auch eine innenpolitische Motivation. Demnach versuchten die reformunwilligen Eliten die wachsenden sozialen Spannungen nach außen abzuleiten, mit Eroberungen und erhöhtem nationalem Prestige zu dämpfen.

Geschichte als Politikum

Die Debatte wurde nicht nur in Fachkreisen geführt, sondern auch in einer breiteren Öffentlichkeit. Selbst Bundeskanzler Ludwig Erhard fühlte sich berufen, gegen Fischer Stellung zu beziehen. In den bundesdeutschen Feuilletons thematisierte man zudem einen weiteren Aspekt: Die Frage nach der Kontinuität in der deutschen Machtpolitik vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus. Das barg natürlich zusätzliche Sprengkraft, denn in den 60ern begann ja gerade erst die ernsthafte Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Das geschah jedoch mit vielen Vorbehalten, auch wegen der direkten Verstrickung zahlreicher Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Wie man heute weiß, galt das im Übrigen auch für Fritz Fischer. Er war nicht nur Mitglied in SA und NSDAP, sondern beteiligte sich auch an antisemitischer Propaganda in der Wehrmacht. Im Großen wie im Persönlichen war die Fischer-Kontroverse, wie sie schon bald genannt wurde, ein Spiegelbild ihrer Zeit und eingebettet in die gesellschaftlichen Verhältnisse und Auseinandersetzungen der 60er-Jahre.

Gelegentlich wünscht man sich ein wenig dieser kritischen Haltung auch für die heutige Zeit. Eine Zeit nämlich, in der Deutschland wieder Kriege führt, und wieder wegen angeblich rein defensiver Ziele. Wie sagte doch Peter Struck 2004: „Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt.“ In derselben Rede adelte er die Bundeswehr gar zur „größten Friedensbewegung Deutschlands“. Ein Schelm, wer böses dabei denkt.

 

Fritz Fischer: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18. Düsseldorf 2009.