Magazin Beitrag

Schock-Strategie für Europa

Ein Beitrag zur aktuellen Lage

Was Angela Merkel und Nicolas Sarkozy vorgestern im Élysée-Palast der Öffentlichkeit präsentierten, ist kaum mehr als alter Wein in neuen Schläuchen. Anstatt die Spekulation gegen einzelne Eurostaaten mit der Einführung von Eurobonds zu beenden, wollen Merkel und Sarkozy die deutsche Schuldenbremse in der gesamten Eurozone verfassungsrechtlich verankern und die gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik mit der vielzitierten Wirtschaftsregierung harmonisieren. Was sich Merkel unter einer Wirtschaftsregierung vorstellt, ist jedoch bereits hinlänglich bekannt – die neoliberale Schock-Strategie für Europa.

Wir leben in seltsamen Zeiten. Während konservative Vordenker allmählich zu erkennen scheinen, dass der neoliberale Kurs zu einer schrittweisen Verelendung der Massen führt, steht Bundeskanzlerin Angela Merkel kurz davor, eben jenen neoliberalen Kurs in der gesamten Eurozone über die nationalen Verfassungen hinweg zur Staatsräson zu machen. Geradezu beschämend ist dabei der Umstand, dass Merkel für ihren neoliberalen Staatsstreich ausgerechnet den Begriff der „Wirtschaftsregierung“ für ihre Zwecke kidnappt. Als die französischen Sozialisten diesen Begriff 1997 ins Spiel brachten, wollten sie der von Deutschland präferierten unabhängigen und monetaristischen EZB eine Alternative entgegenstellen – Europa sollte sich wirtschafts- und finanzpolitisch enger verzahnen, um Lohn- und Steuerdumping einzelner Staaten zu verhindern. Seitdem wird der Begriff immer wieder von progressiven Kreisen ins Spiel gebracht, um Deutschland durch einen europäischen Ordnungsrahmen von seiner destruktiven neoliberalen Wirtschaftspolitik abzubringen. Welch traurige Ironie der Geschichte, dass Angela Merkel mit demselben Begriff nun die exakt gegenteiligen Ziele verfolgt.

Wirtschaftsregierung – ein trojanisches Pferd mit unbekanntem Inhalt

Streng genommen besagt der Begriff „Wirtschaftsregierung“ lediglich, dass Europas Nationalstaaten sich im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik stärker als bisher koordinieren sollen. Neu ist dies alles nicht, da die Staatschefs und Minister der EU- bzw. Eurostaaten sich ohnehin regelmäßig treffen und ihre Politik unverbindlich koordinieren. Eine inhaltliche Aussage ist mit dem Begriff nicht verbunden. Unter einer „Wirtschaftsregierung“ könnte Europa Deutschland dazu zwingen, den flächendeckenden Mindestlohn einzuführen, unter demselben Konstrukt kann Deutschland jedoch auch Europa zwingen, Deutschlands neoliberale Politik zu adaptieren. Freilich wird niemand je in diesem Zusammenhang von „Zwang“ oder „Adaption“ sprechen – das unverfänglichere Wort für derlei politische Erpressung lautet „Harmonisierung“.

Wenn Merkel und Sarkozy vorgestern erklärten, dass die deutsche und die französische Körperschaftssteuer bilateral harmonisiert werden sollen, so ist dabei auch auszuschließen, dass Deutschland die Körperschaftssteuer auf das französische Niveau anhebt – in der Sprache des Neoliberalismus wird immer nur nach unten „harmonisiert“.

Merkels Sinneswandel

Lange Zeit wollte Angela Merkel von einer Wirtschaftsregierung nichts wissen. Das ist mehr als verständlich, stand Deutschland doch mit seiner Ideologie relativ isoliert da und hätte sich unter Umständen der Mehrheit beugen müssen. Die Auswirkungen der Finanzkrise, die nun – ursächlich falsch – als Schuldenkrise auf der politischen Tagesordnung stehen, haben jedoch die Vorzeichen umgekehrt. Als stärkste Volkswirtschaft in Europa und Land mit den besten Refinanzierungsmöglichkeiten an den Finanzmärkten sitzt Deutschland am entscheidenden Hebel. Deutschland muss seine Zustimmung zu jedem Gesetz und jeder Regelung geben, die angeschlagene Eurostaaten vor dem wahrscheinlichen Staatsbankrott schützt – unabhängig davon, ob es sich dabei um reine Flickschusterei oder echte Strukturreformen handelt, mit denen die Macht der Finanzmärkte ein für alle Male beschnitten würde. Wen mag es da verwundern, dass die deutsche Regierung bislang nur für Flickschustereien zu haben war?

Der deutsche Hebel auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik ist so lange vorhanden, wie die betroffenen Staaten zwingend auf die deutsche Protektion angewiesen sind. Wer Europa nach seinen (neoliberalen) Vorstellungen formen will, muss dafür sorgen, dass die Krise möglichst lange anhält. Dieses keinesfalls ehrenhafte Ziel bestimmt die deutsche Politik seit Beginn der Krise. Die Eurokrise ist eine politische Krise, die wohl erst dann ihr Ende findet, wenn Angela Merkel ihre Maximalforderungen durchgesetzt hat oder Europa auseinanderbricht.

Hartz IV für Europa

Welche Forderungen dies sind, hat Merkel bereits im Februar dieses Jahres angedeutet, als sie Nicolas Sarkozy auf ihre Version einer Wirtschaftsregierung eingenordet hat. Der „EU-Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“ beinhaltet verschiedene Rezepte aus dem neoliberalen Giftschrank, die teilweise bereits vorgestern in Paris als Medizin gegen die Eurokrise angepriesen wurden und möglicher Bestandteil späterer Ausformulierungen der Wirtschaftsregierung sein werden: Eine in der Verfassung verankerte Schuldenbremse, die Anhebung des Rentenalters, die Senkung der Löhne, der Verzicht auf inflationsangepasste Leistungen und die „Harmonisierung“ der Sozialpolitik – mit anderen Worten „Hartz IV für Europa“.

Unter „normalen“ Bedingungen wäre diese Rosskur nicht durchzusetzen. Noch nicht einmal Nicolas Sarkozy verfügt über die politischen Mehrheiten, eine komplett kontraproduktive Schuldenbremse in der französischen Verfassung verankern zu lassen. Doch „normal“ ist in Euroland schon lange nichts mehr. Ein Land, dessen Refinanzierung durch abenteuerliche Risikoaufschläge der Finanzmarktakteure gefährdet ist, und dem somit der Staatsbankrott droht, ist nicht mehr in der Lage, sich gegen die neoliberale Rosskur zu wehren. Griechenland und Portugal waren die ersten Opfer der neoliberalen Schock-Strategie, weitere Länder werden folgen.

Ein schnelles Ende der Eurokrise ist durch diese Austeritätspolitik nicht möglich – dies scheint jedoch (zumindest von der deutschen Politik) auch nicht erwünscht zu sein. Erst wenn Europa den Kotau vor dem deutschen Neoliberalismus vollzogen hat, wird der Spuk ein Ende finden und Deutschland sein Placet zu den Eurobonds verkünden. Kategorisch ausschließen will die deutsche Regierung diese Lösung ohnehin nicht. Man hält allenfalls den Zeitpunkt für noch nicht gekommen und das ist noch nicht einmal gelogen. Deutschland hätte europäischer werden sollen, stattdessen wird Europa deutscher – mit allen damit verbundenen Nachteilen.